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Von Angesicht zu Angesicht

In vielen seiner Romane hat José Saramago zentrale Ereignisse der Geschichte seines Landes durchgearbeitet, von den Anfängen der Staatsgründung bis zum Sturz der Diktatur 1974, ja bis in die Gegenwart: sprachmächtig, ausschweifend, barock und mitunter phantastisch ausgeschmückt. Dabei hat er auch Land und Leute in den Blick gerückt, und wir europäischen Leser hatten das Gefühl, etwas vom lusitanischen Menschenschlag und der alten Seefahrernation verstanden zu haben. Jetzt hat sich der Literaturnobelpreisträger auf eine mehrmonatige Rundreise mit dem Auto durchs Land gemacht, um Land und Leute einmal als Reisender zu begegnen, von Angesicht zu Angesicht, als müsste er die Menschen, ihre Dörfer, Felder, Terrassen, ihre Kirchen und Burgen endlich einmal live erleben.

Von Christoph Schmitz | 30.05.2004
    Und Jose Saramago ist gründlich gereist, von Norden nach Süden, kreuz und quer, in sechs Kapiteln fast sechshundert Seiten lang. Die großen Städte und Kulturstätten wie Porto, Coimbra und Lissabon interessieren ihn ebenso wie die Natur- und Kulturlandschaften hin bis zur letzten romanischen Kapelle tief im gebirgigen Hinterland an der spanischen Grenze. So schwer die Sprache seiner Romane von Bedeutung und Geschichte ist, so leicht, so unangestrengt und beschwingt erzählt Saramago von seinen Besichtigungen und Reiserlebnissen.

    Es ist, als habe sich ein Mensch nach schwerer, verantwortungsvoller Arbeit von einem schwarz gebeizten Schreibtisch aufgemacht in die frische Luft und weite, vielgestaltige Landschaft Portugals. Förmlich befreit wirkt dieser Reisende, glücklich unterwegs zu sein, einfach nur da zu sein und zu schauen. Die im Sonnenlicht wie Spiegel leuchtenden Schiefertafeln eines Gebirges im Minho, eine aus losen Steinen errichtete Brücke für Mensch und Tier, ein hinter Mauern versteckter, weitläufiger Garten voll inniger Stille rufen im Dichter wahres Entzücken hervor. Von "Paradiesen" spricht er, von der Gewissheit, dass es "Glück wirklich gibt", dass sich nach dieser Reise die "große Stille der Lüfte" und der "hohen Wolken" in ihm ausbreiten werde, die er brauche, um flüstern zu können: "Ich bin".

    Saramago lechzt nach einer Harmonie, die ihm vor allem die schlichte romanische Architektur und Bildhauerkunst vermittelt. Kapellen, Kirchen, Burgen, Brunnen, Regionalmuseen sucht er auf, alles was alt ist, weil er, wie er schreibt, "alles Alte und Pittoreske achtet und das Moderne und Banale missachtet". Ein betont konservatives Reiseverständnis, wie er zugibt. Als konservativ oder genauer klassizistisch erweist sich auch sein Schönheitsideal: Ganz anders als seine ausladenden Romane erwarten lassen, liebt er es, wenn sich "Süße und Harmonie vereinen", wenn die "Proportionen" ausgewogen sind.
    Diese schlichte Ästhetik, die bei dieser Reise auch eine therapeuthische Funktion gehabt zu haben scheint, setzt sich darin fort, dass die besondere Schönheit eines Ortes, eines Gegenstandes häufig sehr unspezifisch gefasst wird, etwa wenn Exponaten "ein überaus hohes ästhetisches Niveau" zugebilligt wird und überhaupt vieles als "wunderschön" und "wunderbar" und "phantastisch" gepriesen wird. Solche Allgemeinplätze der Begeisterung sind gelinde gesagt nicht nur Nichts sagend, sondern auch langweilig. Langweiliger aber noch sind die endlos katalogisierten Besichtigungen aberdutzender Altertümer.

    Auch wenn Saramago nicht jeden Rundbogen in jedem portugiesischen Dorf besichtigt hat, so hätte er nicht alle, die er besichtigt hat, nennen müssen. Und dabei kommt ein Verdacht auf, dass der Autor diesen Reisebericht ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hat. Dass Grundlage dieses Buches möglicherweise ausführliche Reisenotizen für den Hausgebrauch gewesen sind, aus denen im Nachhinein ein Buch geleimt wurde.

    Zum Klebstoff, der noch stark zu riechen ist, gehört dann auch, dass Saramago nicht von sich erzählt, in der ersten Person, sondern immer sehr künstlich vom "Reisenden" spricht, als wolle er seine privaten Notizen für die Öffentlichkeit auf diese Weise tauglicher machen. Vor allem aber zeigt das Impressum selbst, dass nicht der über 80jährige Literaturnobelpreisträger sein Heimatland bereist hat, was ja einen besondern Reiz ausgemacht hätte. Das portugiesische Original, steht dort, ist schon 1994 erschienen, und eine winzige Stelle im Text verrät, dass Saramago diese Reise schon um 1980 unternommen und den Bericht auch in dieser Zeit verfasst haben muss, also möglicherweise noch vor der Veröffentlichung des Romans Das Memorial, der vom wahnwitzigen Bau des Klosters von Mafra im 18. Jahrhundert erzählt.

    Der Reisende erwähnt bei der Besichtigung Mafras diesen frühen Roman aber mit keinem Wort. Dass es sich hier um einen zwanzig Jahre alten Text handelt, ist, wenn er vor allem nicht den Mangel des quasi-enzyklopädischen Auflistens hätte, nicht weiter schlimm. Man muss es nur wissen, damit sich Merkwürdigkeiten relativieren wie das Stilgefälle zwischen Saramagos frühem leichtfüßigen Reisebericht einerseits und seinem späteren wortschweren Romanwerk andererseits. Auch damit nicht der Eindruck entsteht, Saramago zeichne das Bild des heutigen Portugal. Das hat sich nämlich in den vergangenen zwanzig Jahren gewaltig verändert.

    Dem deutschen Verlag muss man eine versteckte Etikettenschummelei vorwerfen, weil er der berechtigten Erwartung des Lesers, den Reisebericht aus der Feder eines Literaturnobelpreisträgers vor sich zu haben, nicht explizit entgegentritt. Aber genug der Nörgelei. Da schon das Stichwort Portugal-Bild gefallen ist: Saramagos Portugal-Bild beschränkt sich beileibe nicht auf romanische Kirchen und leuchtende Berge. Jede Gelegenheit hat der Autor genutzt, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Und die Geschichten der Leute, ihre Lebens- und Familiengeschichten, aber auch die Geschichten, die die Leute von ihren Kirchen und Heiligen erzählen, sind so eigentümlich, so anrührend und geschichtsgesättigt, dass sich ein Weichbild einer schon fast vergangenen portugiesischen Seelenlandschaft entwickelt.

    Und selbst wenn Saramago einer klassizistischen Ästhetik frönt, so kann er den Realisten, den Menschenfreund, den Atheisten und Kommunisten nicht verleugnen, was er auch gar nicht will. Eine sanfte und schöne, kurz - ideale Landschaft sei wie geschaffen für eine Ekloge, heißt es an einer Stelle, und dann bissig: "Genau der richtige Ort für den arkadischen Schäfer, zumindest solange die Schafe nicht von der Räude befallen sind und der Hirtenjunge keine Frostbeulen an den Fingern hat."

    José Saramago
    Die portugiesische Reise
    Rowohlt, 606 S., EUR 24,90