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Von der anderen Seite der Mauer

Die Foto-Ausstellung "Aus anderer Sicht" präsentiert einen ungewohnten Blickwinkel auf die Berliner Mauer. Es handelt sich nämlich um Bild- und Tonmaterial der DDR-Grenztruppen, die ihren antifaschistischen Schutzwall zu technischen Zwecken dokumentiert haben.

Von Carsten Probst | 13.08.2011
    Eine riesige Brachfläche mitten in Berlin. Im Hintergrund und recht klein erkennt man den Reichstag und das Brandenburger Tor. Der Fotograf steht dabei an einem Ort, der zu dieser Zeit nur höchst wenigen Personen zugänglich war, mitten auf dem zukünftigen Todesstreifen hinter der Berliner Mauer, auf dem von den Grenzbrigaden der DDR planierten Gelände der einstigen Reichskanzlei Hitlers nördlich des Potsdamer Platzes, dort, wo sich heute unter anderem das Holocaust-Mahnmal befindet.

    Zur Zeit der Aufnahme, 1966, verschwindet die Berliner Mauer noch fast unter der himmelweiten Leere, sie wirkt fast unsichtbar. Es ist noch nicht die Mauer, die sich seit Mitte der siebziger Jahre in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, noch nicht die Mauer aus Betonfertigteilen mit einer durchgehenden Betonröhre als Mauerkrone. Noch wirkt sie improvisiert, fast wie eine Baustelle, die sich langsam durch die ganze Stadt frisst.

    Die Aufnahmen, ein Zufallsfund, den der Fotograf Arwed Messmer und die Schriftstellerin Annett Gröschner ausgehoben haben, waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie waren eine interne Dokumentation der DDR-Grenztruppen. Aber die ästhetische Qualität dieser manchmal überwältigend großen, manchmal klaustrophobisch engen Stadträume, die diese Panoramen auszeichnen, lassen heute einen ungewohnten Blick auf dieses Bauwerk fallen - sozusagen den positiven Blick seiner Urheber und Bewacher. In ihm erscheint diese Grenze – und das ist keineswegs zynisch gemeint - wie eine riesige, stadtweite Installation von solch brachialer Künstlichkeit, dass sie um sich herum völlig einzigartige neue Stadträume erzeugt.

    Messmer und Gröschner vollziehen in ihrer Ausstellung gleichsam jenen installativen Charakter nach. Messmer hat in monatelanger Kleinarbeit die Einzelbilder jedes Filmes Panoramen zusammengesetzt. Das Publikum wird in der Ausstellung an betongrauen Bauplattenwänden entlanggeführt, auf die diese Panoramen nach Aufnahmestandort fortlaufend geordnet sind. Monotonie und brachiales Spektakel wechseln einander ab. Mal scheint sich die Grenze in endloser Wiederholung über freigeräumte Flächen zu ziehen, dann wieder erkennt man die frühen Improvisationen, mit denen ihre Architekten arbeiten mussten. Kulissenhafte Restfassaden von abgerissenen Häusern auf dem Grenzstreifen, in der Mitte zerschnittene Straßen und Grünflächen.

    "Es gibt auch sehr viele Friedhöfe auf der Strecke, was daran liegt, dass das ja die alten Bezirksgrenzen sind, und man hat sozusagen innerhalb der Dörfer, die Berlin waren, immer die Friedhöfe natürlich immer so außen gehabt, also es gibt ne ganze Menge Friedhöfe auf dem Weg, die damals aber fast alle noch existent waren, hier fängt es schon an auf dem unteren Bild, dass die Gräber aufgelöst werden. Später gab es dann auf diesem sogenannten Todesstreifen keine Gröber mehr."

    sagt Annett Gröschner. Zwangsläufig wurden an diesem hochsymbolischen Bau auch alle Handlungen, die seiner Umgebung ausgeführt wurden, symbolisch. Gröschner und Messmer dokumentieren als Bildunterschriften die Rufe oder Aktionen, meist von der Westseite aus, über die auf der Ostseite penibel Protokoll geführt wurde. Legendär sind die Geschichten von Frauen auf der Westseite, die sich vor den Blicken der Ostgrenzer auszogen, oder von hinübergeworfenen Zigaretten, fast ausschließlich der Marke "Ernte 23". Aber es gab auch den Ost-Brigadier, der beim Abriss eines Hauses auf dem Grenzstreifen plötzlich auf der Westseite seine Mutter erkannte und unter Tränen abgeführt wurde, oder die Parolen von Neonazis, die den Sturm auf Ost-Berlin ankündigten.

    Der berührenden Wirkung dieses raffiniert inszenierten Bildmaterials kann man sich kaum entziehen. Es zeigt die Mauer dabei fast mehr als Kuriosum mit anekdotischem Charme, denn mit der eingeübten anklagenden Betroffenheit. Das ist alles andere als eine Verhöhnung der Maueropfer. Eher ein Blick hinter den Spiegel dieses Blicks von Westen. Erst dadurch wird die menschliche Dramatik noch einmal erfahrbar.