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Von der klugen jungen Frau zum Star

Der zweite, posthum herausgegebene Tagebuchband von Susan Susan dokumentiert, mit welcher Energie die amerikanische Essayistin ihre intellektuelle und öffentliche Gestalt formte. Und er dokumentiert die Schicksalsgrenzen, an die sie dabei stieß: Liebe und Krankheit.

Von Ursula März | 06.10.2013
    Wann ist ein Star ein echter Star? So berühmt in aller Welt, dass ein einziges Attribut - wie die herausgestreckte Zunge Albert Einsteins - genügt, um ihn abzubilden und der Vorname genügt, um von ihm zu reden? Wer "Marilyn" hört oder die Strichzeichnung eines kelchförmig über zwei Frauenbeinen auffliegenden Rocks sieht, weiß automatisch, wer gemeint ist: Marilyn Monroe, Inbild des absoluten Superstars. Die amerikanische Filmikone starb 1962, zwei Jahre, bevor eine andere Amerikanerin den Durchbruch zu jenem Ruhm erlebte, der sich in Codes und Chiffren ausdrückt.

    Sie heißt Susan, einfach Susan. Und dieser weibliche Star namens Susan ist verewigt im Piktogramm ihrer Frisur, der dicken schwarzen Mähne mit der weißen Strähne über der Stirn. Die Frisur der 1933 geborenen und 2004 verstorbenen Schriftstellerin, Essayistin, Kritikerin und Menschenrechtsaktivistin Susan Sontag war schon zu ihren Lebzeiten so allgegenwärtig, dass eine Susan-Sontag-Perücke als Standardrequisit in der Comedy-Sketch-Show "Saturday Night Life" Verwendung fand. Sich selbst beschrieb Susan Sontag in einem Tagebucheintrag vom 20. August 1964 in einer nüchternen Bestandsaufnahme ihrer körperlichen Konstitution:

    "Groß. Niedriger Blutdruck. Brauche viel Schlaf. Plötzliche Gelüste nach purem Zucker (mag jedoch keine Desserts -Konzentration nicht hoch genug). Vertrage keinen Alkohol. Rauche viel. Neigung zur Anämie. Starke Proteingelüste. Asthma. Migräne. Sehr robuster Magen und gute Verdauung - kein Sodbrennen, keine Verstopfung etc. Vernachlässigbare Menstruationsschmerzen. Stehen ermüdet mich schnell. Mag die Höhe. Sehe gern missgebildete Menschen (voyeuristisch). Kaue Nägel. Knirsche mit den Zähnen. Kurzsichtig, Astigmatismus. Frileuse (sehr kälteempfindlich, mag heiße Sommer). Nicht sehr lärmempfindlich, stark selektive akustische Wahrnehmung."

    Das Besondere an Susan Sontag ist nicht nur, dass sie als Intellektuelle, als femme de lettre zu einer wahren Ikone des 20. Jahrhunderts wurde, darin vergleichbar nur noch Simone de Beauvoir. Das Besondere ist auch, dass sie diesen Aufstieg mit einem einzigen Text erlangte: "Notes on Camp" aus dem Jahr 1964, erschienen in der Herbstausgabe der Partisan Review, in deutscher Übersetzung zwei Jahre später in dem Sammelband "Kunst und Antikunst". Mit diesem Essay über eine Stilrichtung, besser gesagt: Eine subversive, kitschverliebte, ironische Attitüde moderner Literatur und Kunst, für die Susan Sontag den Begriff "Camp" verwendete, revolutionierte sie das ästhetische Denken.

    Mit diesem Essay wurde Susan Sontag zur Schrittmacherin des Zeitgeists und die Denkerin zur Diva mit Glamourfaktor. Schon deshalb ist es sinnfällig, dass der zweite ihrer posthum erscheinenden und von ihrem Sohn David Rieff editierten Tagebuchbände mit dem Jahr 1964 beginnt und bis zum Jahr 1980 führt. Er schließt Susan Sontags Studie "Krankheit als Metapher" mit ein, auch dies ein Text, dessen Titel, wie "Notes on Camp", für ganze Studentengenerationen zur sprichwörtlichen Vokabel wurde. Umso verwunderlicher, zumindest auf den ersten Blick, dass sich im Tagebuch selbst nur ein einziger, sehr kurzer Eintrag zum Stichwort "Camp" findet. Am 23. August 1964 heißt es in einer Zeile:

    "Camp: Ironie, Distanz, Ambivalenz".

    Susan Sontag hielt sich in Paris auf, als sie diesen Satz notierte. In der Wahlheimat ihrer geistigen Interessen und literarischen Sehnsüchte. In der Stadt, in der sie viele Jahre später sogar eine Zweitwohnung besitzen solle und in der sie auch begraben wurde. Sie schaute mit Vorliebe von Europa aus nach Amerika. Die geografische Blickrichtung symbolisierte ihre intellektuelle, denn die Amerikanerin war eine durch und durch europäisch sozialisierte Gelehrte. Gerade dieser Distanz aber verdankte sie ihr feines Gespür für die amerikanische Kulturgeschichte, die im Jahr 1964 einen gewaltigen Umbruch erlebte. Es war der Beginn der Subkultur und der Rebellion.

    Martin Luther King erhielt 1964 den Friedensnobelpreis, der amerikanische Kongress verabschiedete den Civil Rights Act, Andy Warhol bezog die Silver Factory, und zwischen Ost- und Westküste brach das Beatles-Fieber aus. Die amerikanische Kultur war für "Notes on Camp" und für eine glamouröse Intellektuelle, die sich für Roland Barthes, Walter Benjamin, Elias Canetti und Thomas Mann ebenso begeisterte wie für die Filme der Nouvelle Vague, nicht nur bereit. Sie wartete geradezu hungrig auf das Phänomen Susan. Diese aber litt im Jahr 1964. Sie litt an sich und an der Liebe. Sie war 1964 in eine fatale Beziehung mit der kubanisch-amerikanischen Dramatikerin Irene Fornés verstrickt, unfähig, das Ende der Amoure zu akzeptieren.

    "Ich bin Irenes Marginot-Linie. Ihr ganzes Leben beruht darauf, dass sie mich abweist, die Verteidigungslinie aufrechterhält. Alles wird auf mir abgeladen. Ich bin der Sündenbock. Solange sie damit beschäftigt ist, mich abzuwehren, muss sie sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen, mit ihren eigenen Problemen. Ich kann sie nicht davon überzeugen, sie dazu bringen, durch vernünftige Argumente zu erkennen, dass es anders ist. Genauso wenig, wie sie mich dazu bringen konnte, als wir zusammenwohnten, sie nicht zu brauchen, nicht zu klammern, mich nicht von ihr abhängig zu machen. Für mich ist da nichts mehr zu holen – keine Freude mehr, nur Kummer. Warum halte ich daran fest? Weil ich es nicht verstehe. Letztlich akzeptiere ich diese Veränderung bei Irene einfach nicht. Ich denke, ich könnte sie wieder rückgängig machen, indem ich erkläre, ihr zeige, dass ich gut für sie bin. Aber für sie ist es genauso zwingend, mich abzuweisen, wie es für mich zwingend ist, an ihr festzuhalten. Irene empfindet mir gegenüber keine Liebe, keine Milde, keine Güte. Mir gegenüber, zu mir, wird sie oberflächlich und grausam. Die symbiotische Verbindung ist zerbrochen. Sie hat sie abgetan. Jetzt präsentiert sie mir nur noch "Rechnungen". Inez, Joan, Carlos! Ich habe ihr Ego beschädigt, sagt sie. Ich und Alfred. Das aufgeblähte, fragile Ego. Und keine Reue, keine Entschuldigung, keine Veränderung meines Verhaltens, wo es wirklich Schaden angerichtet hat, vermag sie zu besänftigen, zu versöhnen."

    Susan Sontag war nicht nur für geistige Brillanz, sie war auch für einen gewissen intellektuellen Snobismus bekannt. Sie verachtete Dummheit und ging großzügig mit der Bezeichnung "Dummköpfe" um, eine Kategorie, der streng genommen nur Genies und ganz große Künstler entgingen. Nach Genialität hört sich die soeben gelesene Tagebuchpassage allerdings nicht an. Eher nach der redundanten, bitter-beleidigten Klage eines gebrochenen Mädchenherzens.

    Dieser zweite Tagebuchband, dem ein dritter folgen wird, umfasst die Phase in der Biografie Susan Sontags, in der aus der klugen jungen Frau ein internationaler Star in den besten Jahren wurde, in der sich Sontags intellektuelle Gestalt ausformte und ihr Rang etablierte. Dies ist eine der konstanten Themen in diesem Buch. Er dokumentiert, wie die Amerikanerin in den 60er und 70er Jahren in die Elite von Künstlern und Denkern ihrer Zeit aufrückte, befreundet und in beständigem Kontakt mit Peter Brooks, Paul Bowles, György Konrad, Jasper Johns und vor allem mit dem emigrierten russischen Dichter Joseph Brodsky, zeitlebens ein enger Vertrauter und eine Art geistiger Übervater Susan Sontags.

    In den Tagen vor ihrem Tod, äußerte ihr Sohn David Reiff einmal, gab es nur zwei Menschen, von denen Susan Sontag sprach: Joseph Brodsky und ihre Mutter. Sie sprach weder von ihm noch von ihrer langjährigen Lebensgefährtin Annie Leibowitz. Aber neben dem Aufstieg zum sensationellen Erfolg gibt es noch eine andere wichtige Konstante in diesem Tagebuchband: Vergebliche, unbeantwortete Liebe. Der Leser lernt hier eine Susan Sontag kennen, deren snobistisch angehauchte Souveränität sie keineswegs vor immer wieder kehrenden, sich immerzu ähnelnden Liebesschmerzen zu bewahren vermochten. Irene, die ihr die Nähe versagt, ist nur einer der Menschen, an denen sich Susan Sontag vergeblich abarbeitete, um zu erhalten, wonach sie sich sehnte: Befriedigung durch Glück.

    "Da ist keinerlei Empfänglichkeit, nichts Versöhnliches. Mir gegenüber nur Härte. Taubheit. Schweigen. Selbst ein zustimmendes Grunzen würde sie "vergewaltigen". Ihre Zurückweisung ist der Panzer, mit dem Irene sich umgibt. Ihr Schutzwall."

    Die Formulierungen wiederholen sich geradezu gebetsmühlenartig. Über Seiten hin umkreist Susan Sontag bis zur Erschöpfung den immer gleichen Punkt, die Abweisung durch Irene. Doch plötzlich, von einer Passage zur anderen, taucht hinter der Figur Irene eine andere Figur auf, anscheinend die Urfigur vergeblicher Liebeserwartung:

    "Mutter hat mich nicht gestillt. Ich entlaste sie, indem ich es mit David genauso machte. Ich war eine schwere Geburt, sehr schmerzhaft für Mutter; sie hat mich nicht gestillt; war danach einen Monat bettlägerig".

    Mit einem Ruck ändert sich die Perspektive. Von einem Satz zum nächsten erhebt sich aus der zermürbten Klage die psychoanalytisch versierte Reflexion. Das Liebesleid im Jahr 1964 führt schnurgerade zurück zum Kindheitstrauma. Das Chaos der Gefühle ordnet sich im logischen Muster biografischer Wiederholung. Von der eigenen Geburt führt schon im nächsten Satz eine ebenso gerade Linie zur Geburt des Sohnes David, den Susan Sontag zur Welt brachte, als sie neunzehn Jahre alt und mit ihrem Soziologieprofessor Philipp Rieff verheiratet war.

    "David war groß, wie ich, sehr schmerzhaft. Ich wollte das Bewusstsein verlieren, nichts mitbekommen; ich kam gar nicht auf die Idee, ihn zu stillen; ich war danach einen Monat bettlägerig".

    Lehrbuchartig lässt sich an dieser Tagebuchsequenz der Übergang von Gefühlen der Unterlegenheit zur Überlegenheit der rationalen Erkenntnis nachvollziehen. Dem Mädchen mit dem gebrochenen Herzen kommt die Diagnostikerin mit dem messerscharfen Verstand zu Hilfe. Der Tagebucheintrag aus dem Sommer 1964 beginnt mit kläglichem Liebeskummer. Aber er endet mit einem Satz, der alle Anforderungen eines literarischen Aphorismus erfüllt.

    "Lieben = das Gefühl, zu sein, in besonders intensiver Form. Wie purer Sauerstoff, im Gegensatz zu Luft."

    Sechs Jahre später taucht der Vergleich von Liebe mit Sauerstoff erneut in Susan Sontags Tagebuch auf. Wieder leidet sie an einer unerfüllten Liebe zu einer Frau. Sie hat diesmal den Namen Carlotta. Wieder fühlt sich Susan Sontag grausam zurückgestoßen und wieder ist Paris der Ort ihrer Seelenqual.

    "3. 10. 1970. Es ist vorbei - genauso plötzlich, rätselhaft, willkürlich und unvorhersehbar, wie es angefangen hat. Ich weine unablässig, meine Brust, mein Hals, meine Augen, die Haut auf meinem Gesicht, alles voller Tränen, ich habe Asthma: Ich will Sauerstoff, will, dass die Luft mich nährt, aber sie tut es nicht."

    1964 bis 1980: In diesen sechzehn Jahren vollzogen sich nicht nur Susan Sontags Aufstieg in den Rang eines Stars und ihre Abkehr von der Idee des Kommunismus. In diesen Jahren liefen ihre kulturelle Umtriebigkeit, ihr unfassbares Tages- und Lebenspensum zu voller Form auf. Susan Sontag , die von sich sagte, dass sie jeden Tag ein ganzes Buch läse, schaffte es, daneben drei Kinofilme anzuschauen und zwei Ausstellungen zu besuchen und nachts mehrere Restaurants und Bars abzuklappern. Sie reiste auf jeden Kontinent, in fast jede Großstadt und während des Vietnamkriegs mehrere Male nach Hanoi. Ihr Tagebuch ist in weiten Teilen ein Merkheft dieser zahllosen Aktivitäten.

    In Form und Intention ähnelt es weniger den gewissenhaften, akribischen Journalen Thomas Manns, der den Ablauf seiner Stunden und Tage festhielt, als den Sudelbüchern des Aphoristikers Lichtenberg. Es enthält Listen der Bücher, die Susan Sontag noch lesen will oder kürzlich gelesen hat, Listen all der Filme, die sie anschaute oder anschauen will, Listen der Orte, die noch zu besuchen sind und es enthält eine Fülle kürzelhafter Notizen zu Gedanken, Ideen, Einfälle, die Susan Sontag offensichtlich sehr schnell und über den Tag verteilt zu Papier brachte.

    "20.4. 1965. Mehr sehen. Zum Beispiel Farben und räumliche Beziehungen, Licht. Mein Blick ist nicht geschult, nicht sensibel, das ist mein Problem mit der Malerei. Ein anderes Projekt: Webern, Paul Bowles, Stockhausen. Schallplatten kaufen, lesen. War sehr faul in letzter Zeit. Keine Interviews geben, bis ich so klar und autoritativ und direkt klingen kann wie Lillian Hellman in der Paris Review. Lesen und kaufen diesen Sommer in Paris: Buch von André Hodeir, Adorno über Musik, Roland Barthes über Michelet. 15. 10. 1972. Paris. Wieder lesen: Arendts Essay über Lessing und Benjamin - öfters! Hong Kong – die Lu-Hu-Brücke über den Fluss Sham Chun zwischen China und Hongkong. Zu Fuß überqueren. Schirmmützen aus Stoff. Moderne Vorstellung vom Paradies: der Ort, den wir nicht verstehen: Katmandu, die Tarahumara, Tahiti etc … 20.10. 1972. Thema eines Romans: Beziehung zwischen Faschismus und dem "Phantastischen". Mechanisierung von Menschen. Gebrauch der Farbe. 21.10. 1972. Zwei grundlegende Metaphern in meinem Leben. Die Wüste: Stagnation, Leere, karg, zu wenig Menschen, schlichte Gemüter, läppische Geschichte. China: Bewegung, hochstehende Kultur, grünes Land, grandiose Geschichte, zu viele Menschen. November 1972. Das eigene Leben mit Büchern wiederaufbereiten."

    All das klingt, als habe sich Susan Sontag eine Art Selbsterziehungsprogramm angeeignet. Ihr Hunger auf Bildung, auf Kultur, auf Erfahrung war tatsächlich unersättlich. Von Zeitgenossen wird sie als ebenso charmant wie strapaziös beschrieben. Aber das Programm, das ihre Tagebücher wiedergeben, folgt noch einem anderen Motiv: Susan Sontags Bestreben, ihren Stellenwert im Parnass des Geisteslebens zu bestimmen. Härter gesagt: Den eigenen Wert auf dem Markt der intellektuellen Waren festzulegen. Nüchtern, fast kaltblütig rechnet sie das Volumen ihrer Begabung gegen ihren Ruhm auf.

    "4. 1. 1966. Ich bin nicht ehrgeizig, denn ich bin selbstgefällig. Mit fünf habe ich Mabel verkündet, dass ich einmal den Nobelpreis gewinnen würde. Ich WUSSTE, dass ich Anerkennung finden würde. Das Leben war eine Rolltreppe, keine Leiter. Und ich wusste auch - mit fortschreitender Zeit -, dass ich nicht klug genug war, um ein Schopenhauer oder ein Nietzsche, ein Wittgenstein oder Sartre, eine Simone Weil zu sein. Mein Ziel war, mich ihnen als Schülerin hinzuzugesellen; auf ihrem Niveau zu arbeiten. Ich wusste, dass ich einen fähigen, sehr scharfen Verstand hatte - habe. Ich bin gut darin, Dinge zu BEGREIFEN - sie zu sortieren und zu NUTZEN. Aber ich bin kein Genie. Das habe ich immer gewusst. Mein Verstand ist nicht scharf genug, nicht wirklich herausragend. Und mein Charakter, meine Wahrnehmungsweise sind letztlich zu konventionell. Ich bin nicht wahnsinnig genug, nicht besessen genug. Ärgert es mich, kein Genie zu sein? Macht es mich traurig? Wäre ich bereit, den Preis dafür zu zahlen? Ich glaube, dass der Preis Einsamkeit ist, ein unmenschliches Leben, wie ich es derzeit führe, in der Hoffnung, dass es wieder anders wird. Aber selbst jetzt weiß ich, dass sich mein Denken dadurch, dass ich die letzten zweieinhalb Jahre allein war, ohne Irene, weiterentwickelt hat; ich muss meine Reaktionen nicht mehr verbrämen und verwässern, weil jemand anderes daran teilhat. Mit Philipp und mit Irene wurden sie unweigerlich auf den gemeinsamen Nenner, den Konsens beschränkt. Jaspers Einfluss auf mein Leben – die neue Intellektualität, von der das vergangene Jahr geprägt war - wäre nicht möglich gewesen, wenn ich noch mit Irene zusammen wäre. Aber warum will ich - und wozu ist es gut - meine Wahrnehmung immer weiter verfeinern, meinen Verstand schärfen? Ungewöhnlicher werden, exzentrischer? Geistiger Ehrgeiz? Eitelkeit? Weil ich von Menschen kein Glück mehr erwarte, außer von David? Ich habe dieses Etwas – meinen Verstand. Er wächst, ist unersättlich."

    "Notes on Camp" machten aus Susan Sontag 1964 den Star Susan mit der weißen Strähne im schwarzen Haar. Sie war ein Star der Essayistik, aber mit dieser Rolle nie ganz einverstanden. Denn weit höher als das essayistische Schreiben schätzte sie selbst das literarische, das rein künstlerische Schreiben ein. Zeitlebens war es ihre große Ambition, eine bedeutende Romanautorin zu werden. Die Mechanik des Kulturbetriebs, die einen solchen Rollenwechsel nicht unbedingt erleichtert, war ihr mehr als bewusst. Susan Sontag war neben vielem anderen auch eine glänzende Strategin des Betriebs, eine effiziente Verwalterin ihres Startums.

    "31.7. 1973. Vielleicht sollte ich die nächsten zwei Jahre noch Erzählungen schreiben, fünfzehn, zwanzig Erzählungen, wirklich klar Schiff machen, neue Stimmen ausprobieren, bevor ich den dritten Roman angehe. Könnte in den kommenden zwei, drei Jahren zwei Erzählbände herausbringen, mich wieder (oder überhaupt erst?!) als Autorin literarischer Texte etablieren und Interesse - Vorfreude - hinsichtlich des bevorstehenden Romans wecken."

    Den großen Roman, von dem Susan Sontag hier träumt, wird sie tatsächlich schreiben, er heißt "Der Liebhaber des Vulkans" und umfasst fast 600 Seiten. Aber er erscheint viel später, als sie hoffte und plante, im Jahr 1989. Ein Schicksalsschlag, die erste Krebserkrankung Susan Sontags Mitte der siebziger Jahre bringt ihr Lebens- und Schreibprogramm durcheinander.

    "Liebesaffären mit ihrer Energie und Hoffnung …"

    … heißt es 1976 im Tagebuch, und mit den Energien und Hoffnungen sind die der Ärzte gemeint, die Susan Sontags Brustkrebs behandelten.

    ""Der grüne Kittel des Chirurgen. Wer, was gibt mir Auftrieb? Vor allem Sprache. Von den Menschen: Joseph Brodsky. Bücher: Nietzsche, Elisabeth Hardwicks Prosa. Texte, die eine Grimasse sind – viril, komisch, schlau. Nicht zynisch. Bösartig."

    Dass Susan Sontag diesen Begriff an dieser Stelle verwendet, um eine Eigenschaft literarischer Texte zu beschreiben, ist höchst aufschlussreich. Denn der Begriff "bösartig" hat auch eine medizinische Semantik. Er bezeichnet zerstörerische Krebszellen. Und eben diese bedrohen im Jahr 1976 Susan Sontags Gesundheit, ihren Körper, ihr Leben. Unbewusst lenkt sie den Begriff von dem Bereich, in dem sie Opfer ist, in den Bereich, dem sie ihre Siege, ihr Startum verdankt, vom Medizinischen ins Intellektuelle. Der zweite, posthum herausgegebene Tagebuchband Susan Sontags dokumentiert, mit welcher Energie sie ihre intellektuelle und öffentliche Gestalt formte. Und er dokumentiert die Schicksalsgrenzen, an die sie dabei stieß: Liebe und Krankheit. Das eine wie das andere hatte der Star Susan so wenig in der Hand wie jeder andere auch.

    Susan Sontag: "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964 -1980", Hanser Verlag München 2013, 551 Seiten