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Von der Kontur zum Bild

cord

Von Guido Graf | 21.07.2004
    ein leises zwicken in der zone hier wo ich
    den daumen auf die kordel hielt wie sie
    den knoten zuzog überm packpapier das
    ziepte etwas ich erinner mich: das musste
    weihnachten an ort u. stelle sein mit
    bohnenkaffee markenschokolade filter-
    zigaretten mit dem duft der großen weiten
    welt der dann zu riechen war bis hinter
    finsterwalde. das war was anderes als sonst
    die schulspeisung: westpakete nannten
    die das da. die ostverträge wurden auf
    die art geschlossen. cordhosen trug man
    nutzte tintenkiller man griff zu salzgebäck
    u. sah den siebten sinn u. nahm sein herz
    zum schlafen mit sich hoch aufs zimmer
    das ziepte etwas ach es ziepte immer


    Erhellen, ausloten, erforschen: stille Quellen sind Ressourcen, nicht nur des eigenen Lebens, die diese Gedichte versuchen zu erschließen. Der Dichter als Höhlenforscher der Erinnerung dringt dabei in immer wunderbarere Räume vor und findet sich doch auch unvermittelt wieder in seinem Hier und Jetzt wieder. Vor drei Jahren, als Zeichen im Schnee erschien, waren diese Resonanzräume für Norbert Hummelts Gedichte klein und konzentriert, die Lieder eines "irgendwas suchenden sohns." Stille Quellen heißt der neue Gedichtband. Hummelt:

    Ich denke schon, dass "Stille Quellen" und "Zeichen im Schnee" vieles Verbindende haben, bis in einzelne Texte hinein, die auch Motive fort spinnen. Aber ich sehe schon, dass auch was anderes da ist, was ich so nicht geplant habe, aber was hinterher, wenn ein größerer Teil von neuen Texten da ist, was sich dann zeigt, was schon eine Erweiterung, eine Akzentverlagerung ist, die sich vielleicht auch in dem Titel "Stille Quellen" ausdrückt. Es ist häufig die Rede davon gewesen, dass die Kindheit eine zentrale Rolle spielt. Die ist zwar auch in dem neuen Band noch thematisch, aber es geht doch in den Bezügen, die ich versuche herzustellen, geht es weiter zurück. Es geht weiter zurück über die eigene Lebenszeit hinaus rückwärts. Es geht über Motive der Familiengeschichte vor dem eigenen Hinzukommen ein wenig in ein Dunkel herein, was die Gedichte vielleicht so langsam erhellen können. Zeitgeschichtliche Bezüge sind in dem neuen Band vielleicht stärker ausgeprägt als in "Zeichen im Schnee".

    In den neuen Gedichten sucht der 1962 in Neuss geborene Hummelt die anschließenden, oft weiteren Räume auf. Dabei werden keine Register gefüllt und abgehakt, wird kein Quellenstudium erledigt. Hummelt verlässt nicht seine Gegenwart. Auf das, was Herkunft heißt, schaut er vielmehr wie mit einem umgedrehten Fernrohr: eine Mikroskopie des Augenblicks und seiner Untergründe. Memorabilien gibt es nie ohne ihre sinnlichen Qualitäten, jede Erinnerung hinterlässt ein Rätsel in der Gegenwart, eine Zone der Ungewissheit, die Intensität einer stillen Quelle.

    Für mich ist immer die Frage, wie komme ich an irgendetwas heran. Also, "Quellen" ist für mich eher eine Richtungsangabe als etwas, wo ich sage, da bin ich schon. Also ein Nachspüren, was Herkunft angeht, in einem sehr umfassenden Sinn, nicht nur biographisch, sondern auch geschichtlich und sicher auch literaturgeschichtlich, geographisch auch. Geographisches spielt, glaube ich, auch eine wachsende Rolle in diesem Band. Und es gibt einen Bereich, der zumindest in einigen Gedichten eine wichtige Rolle spielt, das ist die religiöse Herkunft, der katholische Hintergrund, der schon natürlich in früheren Zeiten da war. Aber man kann ja über viele Dinge, über die man sich vielleicht im Gespräch äußern könnte, lange Zeit nicht schreiben, zumindest in künstlerischer Form nicht schreiben.

    Norbert Hummelt nimmt Kontakt zu diesen Quellen auf, sucht den Anschluss an einen steten Strom, der durch ihn hindurch geht und an dem er auf irgendeine Weise, und sei sie noch so entlegen, Anteil hat. Entscheidend ist, dass der Weg zu den Quellen immer wieder neu aufgenommen werden muß, in der Lektüre von Büchern und Briefen, auf Wegen zu Fuß, immer wieder neu von der Gegenwart aus. Genau diese Distanz bringen die Gedichte in eine Form.

    rührmichnichtan

    ich kann die wiese nicht mit augen messen
    ich überblicke ja nicht einen zoll ich
    weiß nur dass man die herkulesstaude nicht

    anfassen soll .. mir ist auch so schon meine
    haut gerötet weil in den nesselwäldern nah
    am fluß wächst wieder springkraut aus dem

    kaukasus .. das ist mir sonderbar so nah am
    rhein kann es unmöglich doch den ganzen
    weg vom kausasus bis hier gesprungen sein

    so fühle ich so fragen meine finger die kapsel
    leise mit der haut doch dann schnellt eine
    antwort aus dem kapselinnern: rührmichnichtan


    Natürlich, Gedichte wissen wohl, was Finger fragen. Sie wissen es, sie stehen in direktem Kontakt mit den Sinnen, diesen stillen Quellen, die sich, in der Dichtung, nicht unterscheiden von der Erinnerung, von den Träumen und den Sehnsüchten. Sie sind einander gleich in ihren Schwingungen. Man kann sie an ihren Bewegungen erkennen. Und die ertastete Antwort hat eine doppelte Bedeutung. Norbert Hummelt schreibt nicht von dem, was er sieht, sondern von dem, was ihn berührt. Das reicht in tiefe Schichten. Nur wenn die Samenschoten berührt werden, kann das Springkraut seine Samenkörner herausschleudern und so die Fortpflanzung garantieren. Das vermeintliche Verbot ist zugleich sein Gegenteil, eine Aufforderung, dem blinden Fühlen zu trauen. "Es sind", heißt es in dem Gedicht nocturne, "die dinge der sichtbaren / welt dafür gemacht dass man sie blind behält / als etwas schwebendes das sich verwandeln / kann." In den Gedichten Norbert Hummelts kommt es im mehrfachen Wortsinne zum Begreifen. Was mit Augenverstand nicht begriffen, nicht gemessen und dem selbstverständlichen Wissen hinzugefügt werden kann, das weiß die Haut, der fragende Finger, die Körpergrenze: hier wird der Name als Formel begriffen: rührmichnichtan.

    Des öfteren in diesen Gedichten erweist sich Hummelt als Experte für das feine Sensorium von Fingerkuppen, für ihr Präzisionsgedächtnis. Doch dann die Verwunderung: es kann unmöglich sein, dass dieses Kraut so weit gesprungen ist. Das ist ein Kinderwundern, dem Ferne und Fremde nichts, der Name und sein verführerisches Gebot aber alles gelten. Ein wunderbares Wissen, eine Gewissheit, von der diese Gedichte wie aus einem unerschöpflichen Speicher zehren. Ahnenkunde, Archäologie in eigener Sache, und vor allem immer in ganz eigensinniger Weise gegenwärtig, intim mit dem Jetzt und Hier, oft auch mit der Geliebten. Daraus folgen melancholische Konturen: "vor meiner regenbogenhaut beginnt die fremde." Der Dichter Norbert Hummelt kennt die Gesellen, die ihn da begleiten, die Schattengalerie von zweihundert Jahren deutscher Romantik. Eichendorff und Benn traut er am meisten, dazu hat er auch bereits schöne Essays geschrieben. All das sind stille Quellen, auch sie sind hör- und lesbar wie die Erinnerungen und Blicke, wie all die Nahaufnahmen weit verstreuter Zeiten. Die stillen Quellen: das sind die Nahtstellen, an denen sich blinde Konturen fügen zu einem Bild.

    Wenn auch sehr weniges erfunden ist in diesem Gedichtband, sondern sich das allermeiste auf tatsächliche Funde und vorhandenes biographisches Material bezieht, geht es mir natürlich nicht darum, das zu fixieren und jetzt sozusagen als meine lyrische Biographie auszuweisen, sondern es geht darum, eigentlich paradigmatisch Räume aufzuschließen, die mit Herkünften verbunden sind, die die eigene Herkunft des Verfassers weit hinter sich lassen. Es geht, auch wenn der Autor bestimmte Personen oder bestimmte Dinge im Auge hat, kann das Gedicht ja nur funktionieren, indem ein Leser, ein Hörer seine eigenen Entwürfe in diesem Raum macht, der durch diese Gedichte aufgeschlossen wird.

    Norbert Hummelt
    Stille Quellen
    Luchterhand, 107 S., EUR 9,50