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"Von dieser Praxisgebühr wollen wir weg"

Man müsse mit dem Überschuss vorsichtig umgehen, meint Anette Kramme (SPD). Sie gibt zu Bedenken, dass die Sozialversicherung noch jede Menge Zukunftsaufgaben zu bewältigen habe.

Anette Kramme im Gespräch mit Gerd Beker | 13.04.2012
    Gerd Breker: Der Boom am Arbeitsmarkt und die gestiegenen Beitragszahlungen der Versicherten haben einen Milliardenüberschuss in die Kassen der Sozialversicherungen gespült. Die Sozialkassen erzielten 2011 gemeinsam einen Überschuss von 13,8 Milliarden Euro, das teilte das Statistische Bundesamt gestern in Wiesbaden mit. Zur Sozialversicherung gehören im wesentlichen die gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Unfallversicherungen, die Rentenkasse und die Arbeitslosenversicherung. Gewusst und geahnt hatte man diese Überschüsse schon länger, doch mit den Aussagen des unverdächtigen Statistischen Bundesamtes hat man nun die Fakten. Was tun?
    Darüber reden wollen wir nun mit Anette Kramme, für die SPD Mitglied im Arbeits- und Sozialausschuss und stellvertretendes Mitglied im Gesundheitsausschuss. Guten Tag, Frau Kramme!

    Anette Kramme: Grüß Gott!

    Breker: Kapitalanhäufung – das war nicht der Sinn von Sozialkassen, oder?

    Kramme: Da haben Sie natürlich dem Grunde nach völlig Recht. Allerdings ist es natürlich auch so, dass die Sozialversicherungen jede Menge Zukunftsaufgaben zu bewältigen haben, und deshalb ist es dem Grunde nach gut, wenn zunächst einmal Geld zur Verfügung steht und man muss mit diesem Geld sinnvoll umgehen und sich überlegen, welche Zukunftsaufgaben anfallen.
    Ich kann Ihnen da ein Beispiel für den Bereich der Rentenversicherung nennen. Beispielsweise wissen wir exakt, dass die Erwerbsminderungsrenten im Moment im Durchschnitt nicht ausreichend sind. Den Menschen fehlen im Schnitt 50 Euro. Wollen wir ihnen diese zukommen lassen, würde das Beitragssatzsteigerungen in Höhe von 0,3 Prozent bedeuten. Wenn wir Geld in der Rentenversicherung haben, dann können wir das natürlich so finanzieren. … oder das weitergehende Problem der Altersarmut in der Rentenversicherung. Und so kann man die Zukunftsaufgaben im Prinzip für jeden Zweig der Sozialversicherung durchgehen und festmachen, da haben wir Geldbedarf, aber wir müssen auch mit diesem Geld sorgfältig umgehen.

    Breker: Ich verstehe Sie also richtig, Frau Kramme, Sie sind der Ansicht, die Sozialkassen sollen das Geld behalten?

    Kramme: Dem Grunde nach ja. Es gibt eine Ausnahme: Wir wollen etwas machen im Bereich der Krankenversicherung, und das betrifft die Praxisgebühr. Die Praxisgebühr hat in der Vergangenheit keinerlei Steuerungswirkung entfalten, und das würde bedeuten, dass wir auf einen Betrag von zirka 2,8 Milliarden Euro verzichten. Also von dieser Praxisgebühr wollen wir weg, das war nie eine Idee der SPD, sondern immer eine Idee der Union und davon wollen wir weg.

    Breker: Das heißt, in dem Punkt unterstützen Sie den FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr?

    Kramme: Ja, im Prinzip ja, wobei wie gesagt, es war nie eine Idee der SPD, in diesem Bereich etwas zu machen. Das ist damals als ein Kompromiss herausgekommen. Die Vorschläge der Union waren damals sogar noch viel weitergehend, Eingriffe bei den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen vorzunehmen, und das ist damals herausgekommen und davon müssen wir wieder weg.

    Breker: Mehr Brutto vom Netto, das hatte Schwarz-Gelb versprochen. Da wird nun nichts draus, das liegt aber auch an der SPD, Frau Kramme, denn die SPD blockiert ja die Korrektur der Kalten Progression.

    Kramme: Das ist richtig, wobei man zwei Dinge unterscheiden muss: einerseits die zusätzlichen Einnahmen, die wir im Bereich der Sozialversicherung haben, und andererseits müssen wir natürlich registrieren, dass die öffentlichen Haushalte nach wie vor im Minus fahren, und wenn wir eine Steuerreform bekommen, dann sollte gerade vor dem Hintergrund der Schuldenkrise da sehr vorsichtig agiert werden. Das heißt nicht, dass wir uns auf Dauer der Kalten Progression entziehen werden, dort nicht Lösungen ansetzen werden, aber beispielsweise sinnvoll wäre auch der Vorschlag, gleichzeitig mit der Reichensteuer anzusetzen, also dort Steuersteigerungen vorzunehmen, Einnahmesteigerungen vorzunehmen und eine solide Gegenfinanzierung vorzunehmen.

    Breker: Träger der derzeitigen Konjunktur, Frau Kramme, sind ja die Arbeitnehmer, und die – das haben wir eben in dem Beitrag des Kollegen Geers gehört – die haben netto weniger in der Kasse als vorher, sie profitieren nicht von der Konjunktur, die sie ja eigentlich tragen. Die Gewinne, die machen andere und die behalten die auch.

    Kramme: Aber die Sozialversicherungen sind natürlich eine Einrichtung zu Gunsten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Es gibt den klassischen Spruch, nur Reiche können sich den Verzicht auf den Sozialstaat erlauben. Und wenn wir beispielsweise etwas gegen Altersarmut tun, dann hilft das ganz, ganz vielen Menschen in diesem Staat, was allerdings auch bedeutet, dass dieses Geld nicht für den sofortigen Konsum zur Verfügung steht.

    Breker: Wenn die Beitragszahlungen und damit auch die Überschüsse, die derzeit in den Sozialkassen, etwa in der Rentenkasse – Sie haben es angesprochen, Frau Kramme – sich befinden, wenn die den Beitragszahlern gehören, dann müsste man sie doch auch in irgendeiner Form daran beteiligen, wie dieses Geld, dieses Mehr, dieses Plus ausgegeben wird.

    Kramme: Das tun wir ja partiell. Wir wollen nur mit diesem Geld vorsichtig umgehen. Wir sagen beispielsweise, es soll die Abschaffung der Praxisgebühr geben. Das bedeutet Mindereinnahmen in einer Größenordnung von zirka 2,8 Milliarden Euro. Aber ich habe es bereits vorhin formuliert: Es gibt ein massives Interesse daran, dass die Zukunftsaufgaben der Sozialversicherung auch finanziert werden. Wir werden sehr, sehr viele Menschen künftig in der Altersarmut haben. Das muss natürlich einerseits über den Bereich des Arbeitsmarktes gelöst werden, aber andererseits auch über die Rentenversicherung.
    Oder ein anderes Beispiel, nehmen wir die Pflegeversicherung her. Wir brauchen im Prinzip einen vollkommen neu definierten Begriff, was ist Pflegebedürftigkeit. Auch das wird erhebliche Mehrausgaben auslösen. Und das lässt sich leider nur finanzieren mit Geld, das an irgendeiner Stelle irgendwann eingenommen wird.

    Breker: Nur, Frau Kramme, das sind ja Projekte, die über Jahre hin dauern werden, das erfordert ja eine Reform etwa der Rentenversicherung, wenn man mit der Rentenversicherung gegen Altersarmut vorgehen will. Es fordert eine Reform der Pflegeversicherung. Bevor das Wirklichkeit wird, vergehen Jahre und in der Zwischenzeit liegt das Geld brach herum.

    Kramme: Das ist meines Erachtens nicht zutreffend. Richtig ist, dass Schwarz-Gelb die erforderlichen Reformen im Bereich der Sozialversicherung nicht angeht. Wir haben eine halbherzige Reform im Bereich der Pflegeversicherung durch Herrn Bahr einerseits, wir haben verheerende Änderungen im Bereich der Krankenversicherung gehabt und im Prinzip im Bereich der Rentenversicherung sind auch nicht die erforderlichen Schritte vorgenommen. Für einen Großteil der Dinge haben wir bereits Gesetzesentwürfe vorgelegt, also wenn man wollte, könnte man das alles sehr, sehr schnell umsetzen, das Geld könnte "sofort" wieder ausgegeben werden und den Menschen damit zugute kommen.

    Breker: Nur diese Gesetzesvorhaben, die die SPD vorgelegt hat, sie haben einfach keine Chance auf Mehrheit. Also das Geld liegt doch herum!

    Kramme: Also es bestände die Möglichkeit, dieses Geld auszugeben, und es ist weitaus schwieriger, Geld zu einem späteren Zeitpunkt wieder einzusammeln, als das Geld, das man einmal hat, das man einmal im Zuge konjunktureller Überschüsse eingenommen hat, dafür verwenden kann, sinnvolle Zwecke zu erfüllen.

    Breker: Das heißt, Frau Kramme, Sie warten eigentlich darauf, bis das es in Berlin wieder eine Große Koalition gibt, und dann können Sie bestimmen, wie das Geld ausgegeben wird?

    Kramme: Also eine Große Koalition ist mit Sicherheit keine Wunschvorstellung der SPD, aber dass wir unsere Ideen durchsetzen können, wie ein vernünftiges Sozialversicherungssystem aussieht, das Zukunftsaufgaben bewältigt wie beispielsweise auch die Fachkräftesicherung. Also darauf hoffen wir natürlich sehr, sehr intensiv, dass wir da mehr gestalten können.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die SPD-Sozialpolitikerin Anette Kramme. Frau Kramme, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.

    Kramme: Ihnen herzlichen Dank. Auf Wiederhören.


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