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Von Grenzwerten, Integralen und Unendlichkeit

"Vom Zählstein zum Computer" heißt eine Schriftenreihe der Projektgruppe "Geschichte der Mathematik" der Universität Hildesheim. Autor Thomas Sonar möchte die Entwicklung mathematischer Erkenntnisse als kulturgeschichtlichen Prozess beschreiben - und zeigt die Wechselwirkungen mit den Naturwissenschaften, mit Kunst und Technik auf.

Von Michael Niehaus | 23.02.2012
    Genau genommen beginnt der mathematische Zweig der Analysis erst mit Newton und Leibniz, mit der Differential- und Integralrechnung. Also vor rund 350 Jahren. Für Mathematikprofessor und Autor Thomas Sonar gibt es allerdings "dünne Wurzelfäden", wie er es nennt, die bis in die Welt der ägyptischen Pharaonen reichen:

    "Zum Beispiel die Ägypter bei der Berechnung des Volumens der Pyramide: Da schreibt Demokrit, der alte Grieche, die hätten sich vorgestellt, einen Würfel zu teilen und die dann senkrechte Pyramide, die dann übrig bleibt, in ganz, ganz dünne Scheiben sich zerschnitten gedacht. Diese Scheiben in die Mitte verschoben und hätten so herausgekriegt, dass das Volumen der echten Pyramide so groß ist wie das der senkrechten Pyramide. Das ist eine analytische Idee!"

    Das eigentliche Gebiet der Analysis betreten die Griechen der Antike. Thales von Milet wird zugeschrieben, die Mathematik als deduktive Wissenschaft begründet zu haben.
    Die Pythagoreer vertraten die Auffassung "Alles ist Zahl". Unter Zahl verstanden sie die natürlichen Zahlen. Ausgerechnet ein Schüler des Pythagoras, so der Leiter der Projektgruppe Geschichte der Mathematik, der emiritierte Mathematikprofessor Heinz-Wilhelm Alten, stürzte die Mathematik in ihre erste Krise:

    "Und als dann Hippasos von Metapont zum ersten Mal entdeckte bei der Berechnung der Diagonalen eines Quadrates oder der Diagonalen eines regelmäßigen Fünfeckes , dass es auch nicht-rationale Zahlen gibt, also Zahlen, die sich nicht als Brüche darstellen lassen, Drei-Fünftel, Vier-Siebtel oder dergleichen, wie sie auch der ganzen Tonkunst zugrunde liegen im Altertum, aber dass dann daneben es Zahlen geben muss, die nicht-rational, sonder irrational sind, die sich nicht als Bruch darstellen lassen. Das ist die große Entdeckung, die die Pythagoreer in so große Verwirrung gebracht hat, sogar zu einem Zusammenbruch der damaligen Mathematik, das war die erste Revolution, die erste Katastrophe der Mathematik damals."

    Die Geschichte der Analysis ist verbunden mit so großen Namen wie Archimedes in der Antike, mit Avicennea und Averroes, Arabern, die nach dem Ende des Weströmischen Reiches das verschüttete philosophische und mathematische Wissen der Antike retten, weiterentwickeln und vor allem weitergeben, worauf so große Mathematiker wie Roger Bacon, Johannes Kepler, Galilei, Descartes, Pascal aufbauen können.
    Eine weitere entscheidende Etappe in der Geschichte der Analysis erfolgte nun in der Tat durch die Arbeiten von Newton und Leibniz.

    Sonar: "Man kann grob sagen, die Erkenntnis, dass die Ableitung einer Funktion, also die Bestimmung der Steigung und die Berechnung der Fläche unter einer Funktion, also das Integrieren, dass das entgegengesetzte, inverse Operationen sind. Diese bahnbrechende Erkenntnis nennen wir heute den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, die hatten erstmals Newton und Leibniz. Das war der Riesendurchbruch."

    Im 17. Jahrhundert allerdings war die Industrie noch nicht reif, die Erkenntnisse von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz aufzunehmen und anzuwenden.

    Sonar: "Aber schon im 18. Jahrhundert kommt Leonhard Euler. Und der erfindet die widerstandsoptimalen Zahnradflanken zum Beispiel, die zu seiner Zeit niemand herstellen konnte, aber wenn sie heute im Auto sitzen, fast 90 Prozent aller Zahnräder sind Eulersche Zahnräder, die mithilfe der Analysis bestimmt worden sind. Euler erfindet die Turbine im 18. Jahrhundert, rechnete sie mithilfe der Analysis richtig und vollständig durch. Bauen konnte man sie nicht im 18. Jahrhundert. Das hat man dann sehr viel später gemacht, aber so kommt doch ganz früh schon im 18. Jahrhundert die Analysis auch in Richtung der späteren industriellen Anwendung."

    Analysis. Über diese für viele sehr abstrakte, mathematische Disziplin wird in diesem reich bebilderten und mit vielen Porträts von Mathematikern angereicherten Band von Thomas Sonar viel gesagt. Das Buch zeigt aber noch wesentlich mehr. Analysis begegnet uns nämlich überall im alltäglichen Leben.

    Sonar: "Die Analysis ist die Grundlage der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert gewesen. Ohne Analysis keine Brücke, ohne Analysis keine Mechanik, keine Maschinen, keine Kraftwerke. Ohne Analysis – ich will nicht sagen, wir leben auf den Bäumen –, aber würden wir immer noch in Holzkutschen umherfahren."

    Alten: "In einem normalen Laden würde kein Computer, der die Rechnung präsentiert und ausrechnet, wie viel man bezahlen muss, funktionieren, wenn wir nicht diese Mathematik hätten, die da hinter steckt mit dem Binärsystem, Null und Eins geht alles, das ist ja schon von Leibniz erkannt worden, deshalb auch der Beginn der gewaltigen Ausbreitung der Analysis, die nun alle Bereiche unseres Lebens durchdrungen hat."

    Wie wichtig etwa die Analysis bei der Ausbildung von Ingenieuren ist, zeigt ein Beispiel aus England. Dort nämlich spielt die Mathematik bei den Ingenieuren nur eine eher unbedeutende Rolle. Dies wird als Grund für das Desaster der im Jahre 2000 eröffneten Millenniumsbrücke über die Themse verantwortlich gemacht. Diese 18 Millionen Pfund teure Fußgängerbrücke erwies sich als instabil. Sie begann, seitlich zu schwingen. Das Phänomen der Resonanz war nicht berücksichtigt worden.

    Das Projekt "Geschichte der Mathematik" der Universität Hildesheim enthält eine hochschul- und bildungspolitische Komponente. Denn, so Professor Heinz-Wilhelm Alten, die Geschichte der Mathematik verschwindet mehr und mehr aus Schule und Hochschule:

    "Und da nun in anderen Fächern wie Musik und Literatur und vor allem auch in der Kunst die Kunstgeschichte, die Literaturgeschichte, die Musikgeschichte zum obligatorischen Studium gehört, ist das in der Mathematik leider nicht der Fall. In der Schweiz ist es wohl so, in der DDR war es früher üblich, bei uns hat man im Gegensatz dazu die noch bestehenden Institute zur Geschichte der Mathematik in München, Hamburg, Leipzig, Berlin geschlossen. Das ist ein Trauerspiel, denn auf diese Weise geht viel von dieser Kulturgeschichte verloren."

    Und so ist die Buchreihe "Vom Zählstein zum Computer", die in verständlicher Sprache mathematische Begriffe, Erkenntnisse und Methoden als kulturgeschichtlichen Prozess beschreibt, auch verbunden mit dem Anspruch, die häufig als schwer verständlich verurteilte Mathematik lebendig darzustellen

    Buchinfos:
    Thomas Sonar. 3000 Jahre Analysis. Vom Zählstein zum Computer, Springer Verlag. Heidelberg 2011. Preis: 39,95 Euro