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Von Kabul nach Kandahar

Behmaroo, ein Stadtteil im Zentrum Kabuls - es herrscht reger Verkehr von Autos und Mopeds auf der vierspurigen Straße. In einer Seitenstraße macht sich Platoon Commander Douglas Fisher mit einem Dutzend Soldaten für die heutige Fußpatrouille bereit.

Von Friedbert Meurer | 11.10.2007
    "Hey Guys, hey!"

    Die Soldaten des sechsten schottischen Infanterie-Regiments setzen sich - versetzt links und rechts der Straße - in Bewegung. Mit Sturmgewehren und kugelsicheren Westen. Aber statt ihres Helms tragen sie ein Barett mit den traditionellen kleinen schwarzen oder weißen Federn. Der Trupp will nicht zu martialisch ausschauen, wenn er gleich durch das Kabuler Quartier geht.

    "Wir strengen uns schon sehr an, um freundlich zu den Bewohnern zu sein. Ein Dolmetscher übersetzt für uns, stellt den Kontakt her und erklärt, warum wir hier sind. Wir wollen Vertrauen aufbauen, damit sie verstehen, dass wir ihnen nur helfen wollen. "

    "Ask him which team he supports. Barcelona? Yes, Ronaldinho! "

    Der britische Offizier Marc Fothergill kommt mit den vielen Kindern in Behmaroo über deren Lieblingssport, Fußball, ins Gespräch. Der Stadtteil wirkt sehr arm, die Straßen sind nicht gepflastert, es gibt keine Kanalisation. Aber die Kinder deuten nach oben auf die neuen Drähte und Masten, dass es jetzt neuerdings Strom bei ihnen gibt - wenn auch noch kein fließendes Wasser. Ein elfjähriger Junge weiß aus den Gesprächen der Älteren, was die Leute sich hier wünschen.

    "Zuerst wollen wir, dass die Regierung die Preise senkt. Alles wird täglich teurer. Zweitens soll die Gegend sauberer werden. Und drittens: dass es Frieden in Afghanistan gibt."

    Fünf Minuten Pause, dann geht es weiter vorbei an den winzigen Läden, mit denen sich die Leute in Behmaroo über Wasser halten. In einem Laden stapeln sich Zinnbehälter in jeder Größe bis zur Decke hoch.

    "Es läuft ganz gut, die Leute kaufen etwas von uns. Dass die Soldaten hier sind, finde ich gut, weil sie sich um die Sicherheit kümmern für die Menschen hier in Afghanistan."

    Der Trupp schottischer Soldaten marschiert weiter, aus ihren schweren Rucksäcken ragen dicke schwarze Antennen nach oben. Jammer - sie können Leben retten. Die Jammer senden ein Störsignal, das verhindert, dass jemand per Fernzündung einen Sprengsatz hochgehen lässt. Gegen Selbstmordattentäter helfen die Geräte aber nicht. Wir halten kurz vor einem Stand, an dem es das afghanische Nationalgericht Bolani gibt.

    "Wir können in die Schule gehen oder studieren, weil hier Frieden herrscht. Aber weiter in der Innenstadt, da gibt es eine Menge Explosionen und in den Provinzen erst recht, das ist nicht gut für uns."

    Alltäglich sei es nicht, meint Commander Fisher, dass ein Sprengsatz hochgehe. Aber die meiste Gefahr in Afghanistan geht für die ISAF-Soldaten, zu denen auch die Schotten gehören, inzwischen von selbst gebastelten Sprengsätzen aus. Hier in Behmaroo sei ihnen allerdings noch nie etwas ernsthaft auf den Fußstreifen passiert. Außerdem ist ihnen der Kontakt zur Bevölkerung wichtig, weil dann auch das Vertrauen entsteht, um einmal einen Hinweis zu erhalten, auf verdächtige Personen, auf Aufständische, Terroristen - auf Leute, die Bomben legen. Das traut ihr Deutschen euch nicht - witzelt jemand aus der Patrouille. Tatsächlich - seit dem Anschlag auf dem Marktplatz von Kundus im Norden, mit drei toten Deutschen, sollen sich die Bundeswehr-Soldaten per Fuß nur noch selten aus ihren Camps wagen. Der deutsche Stabschef im ISAF-Hauptquartier in Kabul, Bruno Kasdorf, bestreitet das entschieden:

    "Ich habe gerade eben etwas anderes gehört. Ich habe gehört, dass sie gut unterwegs sind, dass sie draußen sind, dass sie Kontakte zur Bevölkerung haben. Es wäre auch schlimm, wenn sie nicht draußen wären."

    Tatsächlich sind wohl in den ländlichen Gebieten im Norden Bundeswehr-Soldaten auch per Fußstreife unterwegs. Aber nicht mehr in Kundus. Soldaten berichten, dass es in Kundus am 16. Mai die letzte Militärpatrouille gab, bei der die Soldaten auch ihre Fahrzeuge verlassen haben. Drei Tage später starben drei Zivilbedienstete in Uniform auf dem Marktplatz bei einem Selbstmordanschlag. Danach wurde alles gestoppt, auch die bereits geplante nächste Fußstreife auf dem Viehmarkt von Kundus am 31. Mai. Die Spitze der Bundeswehr will weitere Opfer vermeiden, um den Preis einer zunehmenden Distanz zur Bevölkerung.

    Mazar-i-Sharif, 250.000 Einwohner, eine lebendige Stadt in Nordafghanistan. 20 Kilometer vom Zentrum entfernt liegt Camp Marmal, der Hauptsitz der Deutschen. Fußstreifen der Deutschen gibt es nicht mehr in der Stadt. Aber die Deutschen bauen hier ein zerstörtes Krankenhaus provisorisch wieder auf. Bauingineur Ras Gul Salihie, vor einem halben Jahr aus Berlin gekommen, glaubt, dass die Sicherheitslage sich wegen der Stationierung der deutschen Tornados verschlechtert habe.

    "Die möchten, dass Isaf da ist. Aber trotzdem: die Lage ist unsicher geworden in Nordafghanistan. Den Grund weiß die deutsche Regierung selber, denke ich mal, wegen dieser Tornado-Geschichte. "

    In Camp Marmal weit draußen vor den Toren der Stadt bestreitet das der deutsche Befehlshaber des ISAF-Regionalkommandos Nord, General Dieter Warnecke, entschieden. Die vermehrten Anschläge der letzten Wochen hätten mit den Tornados nichts zu tun.

    "Ich sehe das eher im Gegenteil. Die Aufklärungstornados haben maßgeblich dazu beigetragen, dass wir hier erfolgreicher im Norden operieren konnten, in ganz Afghanistan. Und sie sind von der Bevölkerung hier in Mazar-i-Sharif überhaupt nicht in irgendeiner Weise in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil. Sie helfen uns maßgeblich, diese Mission erfolgreich zu gestalten."

    Zwei Tornados in Mazar kehren zurück von ihrem Einsatz, ihre Aufklärungsfotos werden jetzt sofort ausgewertet. Diese Fotos bereiten einigen Bundestagsabgeordneten im fernen Berlin erhebliche Bauchschmerzen. Die Tornados selbst werfen zwar keine Bomben über Afghanistan ab, aber - so die Befürchtung - dank ihrer Aufklärungsergebnisse würden andere Kampfjets ihre Ziele bombardieren können. Jets anderer Nationen von ISAF oder gar von der US-amerikanischen Anti-Terror-Mission "Operation Enduring Freedom", OEF. Auf dem Flugfeld in Mazar deutet der Commodore des Tornado-Einsatzgeschwaders Christoph Pliet auf den langen Behälter an der Unterseite eines der Jets.

    "Die Telelenskamera ist hier drin mit 610 mm Brennweite, hier in der Mitte die 80 mm Kamera. Dort sind drei Linsen, das heißt der Film fährt in einer Reihe durch, dann drei weitere Kamera, und dort hinten ist die Infrarotkamera eingebaut. "

    Bis ein Foto von der Aufnahme aus 1500 Metern Höhe in die Datenbank im ISAF-Hauptquartier lande, das dauere bis zu eineinhalb Stunden. Für eine in Not geratene Bodentruppe, die Luftunterstützung anfordert, dauere das zu lange. Die Fotos würden definitiv nicht an OEF weitergegeben, die US-Mission habe keinen Zugang zur Datenbank. Commodore Pliet berichtet, von dieser strikten Regel gebe es nur eine Abweichung:

    "Da gibt es eine Ausnahme: Wenn OEF in Unterstützung von ISAF eine Operation durchführt, nur dann haben sie Zugriff. "

    Über die deutsche Beteiligung am OEF-Einsatz der Amerikaner wird auf Wunsch der SPD erst im November abgestimmt. Der Streit ist fast nur symbolischer Natur, die Spezialkräfte der KSK, nur um sie geht es, sollen seit zwei Jahren nicht mehr im Einsatz gewesen sein. ISAF sei aber abhängig von OEF, sagen die führenden Militärs. Gerade die kämpfenden Einheiten von ISAF im Süden, Kanadier, Niederländer, Briten, gerieten immer wieder in eine Situation, in der sie Unterstützung von den USA anfordern. Der deutsche Vier-Sterne-General Egon Ramms leitet vom niederländischen Brunssum aus den operativen Einsatz der knapp 40.000 ISAF-Soldaten. Er und der Stabschef im Kabuler Hauptquartier Bruno Kasdorf appellieren händeringend an den Bundestag, auch das OEF-Mandat zu billigen.

    Egon Ramms: "Die Unterstützung, die OEF leistet durch die Spezialkräfte, zum Teil durch Luftunterstützung und dergleichen, ist für ISAF ungeheuer wichtig. Ohne OEF kann ISAF seine Operationen in Afghanistan nicht fortsetzen."

    Bruno Kasdorf: "Das wäre ein Signal, dass wir, wenn es um den Antiterrorkampf geht, ausstiegen. Was ist das für ein Signal an die Alliierten?"

    Mit einem Ausstieg rechnet aber auch keiner, auch nicht unbedingt bei OEF. In Afghanistan wünscht man sich von den Deutschen eher mehr Engagement als weniger. Dass die Bundeswehr im weit weniger gefährlichen Norden sitzt, wird gerade noch akzeptiert. Nicht aber, dass deutsche Ausbilder nicht mit ihren afghanischen, von ihnen trainierten Soldaten in den Süden gehen, um sie dort auch im Gefecht zu betreuen. Nicht nur für Kasdorf ist das ein klarer Bruch mit einer von allen anderen Nationen respektierten militärischen Selbstverständlichkeit. NATO-General Egon Ramms kritisiert offen die deutsche Politik.

    "Ich empfehle aber dringend, darauf zu achten, dass diese künstlich geschaffene Einteilung Afghanistan in Norden, Westen, Osten und Süden und Capital nicht zu tatsächlichen Grenzen führt. Ganz scharf gesprochen: Jede Regionalisierung verhindert die Arbeit für ganz Afghanistan, und wir sollten den Blick auf ganz Afghanistan haben."

    Anflug mit dem Black-Hawk-Hubschrauber auf den Militärflughafen Kandahar. Von hier aus werden die Gefechtseinsätze von ISAF im Süden Afghanistans befehligt. Anders als im vergleichsweise ruhigen Norden rücken hier Bodentruppen vor, gibt es Straßen- und Häuserkämpfe. Gerade sind die französischen Mirage-Kampfflugzeuge von Tadschikistan nach Kandahar verlegt worden. 24 lasergesteuerte Raketen haben die Besatzungen allein in einem Monat abgefeuert, französische ISAF-Soldaten, nicht OEF-Einheiten. Die haben unweit der Mirage in Kandahar einen US-Langstreckenbomber geparkt. General Egon Ramms versichert, die USA würden bei ihren Luftangriffen jetzt mehr Rücksicht nehmen.

    "Wir haben bei unseren amerikanischen Freunden eine Bewusstseins-Änderung im Laufe dieses Jahres herbeigeführt, und die Koordinierung wird immer besser. Die Zahl der zivilen Verluste, die wir alle bedauern, hat ebenfalls eine Entwicklung genommen, bei der ich sage: wir sind auch hier auf dem richtigen Weg."

    Europäische Diplomaten in Afghanistan verteidigen ebenfalls OEF: Die Amerikaner seien mit ganz weitem Abstand die größten Geldgeber für den zivilen Aufbau Afghanistans. Der Anteil am Aufbau der afghanischen Polizei übersteigt ein vielfaches den deutsche Beitrag, obwohl Deutschland "Lead Nation" bei der Polizeiausbildung ist. Der Botschafter eines führenden ISAF-Landes in Kabul schreibt den deutschen Abgeordneten ins Stammbuch: wer gegen OEF stimme, der votiere gegen die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Von 25 so genannten PRT-Teams, Wiederaufbauteams im ganzen Land, unterhalten allein zehn die USA. Unter ihrem militärischen Schutz werden Brunnen gebohrt oder Schulen gebaut. Überhaupt: nicht nur im Norden bei den Deutschen, sondern auch im umkämpften Süden unterhält ISAF solche Aufbauteams. Dicht beieinander sitzen drei kanadische Soldaten im fast dunklen Inneren eines von zwei Schützenpanzern. Von zwei weiteren Soldaten sieht man nur die khaki-farbenen Tarnhosen, ihre Oberkörper ragen durch ein Luke aus dem Dach heraus. Mit ihren Sturmgewehren sichern sie zur Seite und nach hinten ab.
    Die Heckklappe öffnet sich. Draußen scheint die Sonne strahlend hell vom blauen Himmel. Nur wenige Meter von uns entfernt grasen Schafe. Kinder spielen zwischen hohen Grasbüscheln. Der kanadische Offizier Michelle Pelletier geht auf den Dorfältesten zu:

    "I am from PRT."

    Er sei vom Wiederaufbauteam, sagt Pelletier, sie wollten mit der Patrouille wissen, wie sicher es hier in der Region Kandahar sei. Die anderen Bauern stehen zurückhaltend, aber neugierig hinten im Schatten an der Lehmmauer. Vor ihnen stapeln sich Obstkisten, in die sie Granatäpfel packen.

    "The price for your pomegranate?"

    Der Preis für die Granatäpfel sei gut, die gingen nach Pakistan. Der Älteste scheint sich nicht daran zu stören, dass auf dem Schützenpanzer jemand die Bordkanone suchend hin und her schwenkt und auf ein mögliches Ziel richtet - auf der Hut vor einem Angriff. Vor zwei Jahren seien noch die Taliban da gewesen, viele Kämpfer. Seitdem sei es aber ruhig, hoffentlich bleibe es so. Neben den Granatäpfelbäumen steht ein Feld voll Cannabis in Blüte. Die ISAF-Soldaten dürfen dagegen nichts machen, fragen aber nach. Das gebe eine gute Ernte, nur etwas mehr Wasser wäre gut. Die Kanadier setzen ihre Patrouille mit dem Wiederaufbauteam fort. Unter ihnen eine Soldatin, Mitte 40, drei erwachsene Kinder.

    "In einigen Dörfern gehen sie auf Distanz zu uns, kein Wunder nach 30 Jahren Krieg. In anderen Dörfern sitzen wir in einer Schura zusammen, dem Dorfrat, und geben ihnen etwas Geld für ein Projekt."

    ISAF trägt auch zum Wiederaufbau im Süden bei, aber den Schwerpunkt bildet der Kampf gegen die Taliban. Ein Mahnmal aus weißem Marmor erinnert an die 71 Kanadier, die bisher ihr Leben in Afghanistan gelassen haben - dreimal so viele wie von der Bundeswehr. Die Zahl der Sprengstoffanschläge nimmt zu und wird immer bedrohlicher. Der Stabschef im Regionalkommando Süd, Peter Froeling, ein Niederländer, hält deswegen die Kritik auch aus seiner Heimat für falsch, es gebe zuviel Militär und zu wenig Wiederaufbau. Beides sei nötig, auch das Militär.

    "Die Sicherheitslage hier unten im Süden macht uns Sorgen. Es gibt weiter viele Kämpfe. Menschen werden getötet, afghanische Soldaten, ISAF-Soldaten, aber auch amerikanische. Obwohl das beim Militär dazugehört, ist das eine sehr traurige Sache. Wenn wir wieder einen Toten ehren und den Sarg nach Hause fliegen, das berührt unsere Soldaten sehr. Aber wenn sie etwas machen wollen, dann müssen Sie den Aufstand der Taliban bekämpfen. Aber Bekämpfen bedeutet dann eben nicht nur Schießen, sondern auch, dass man die Menschen für sich gewinnt."

    Ein Weg, die Afghanen für ISAF einzunehmen, ist es, Schulen zu bauen. Statt 20 Prozent wie unter den Taliban gehen jetzt 80 Prozent aller afghanischen Kinder zur Schule. In Kabul zum Beispiel gilt die Amani-Schule als Vorzeigeprojekt. Die Deutschlehrer dort möchten, dass die ISAF-Soldaten bleiben.

    "Wenn diese Truppen nicht hier sind, dann gibt es in Afghanistan, besonders in Kabul, 72 Parteien, die haben verschiedene Ideen. Wenn diese Leute weg sind, streiten die Parteien wieder miteinander. Und diese Leute sind auch alle bewaffnet. Wenn diese Leute weg sind, dann ist klar, die streiten noch mal."

    Aber das Leben in Afghanistan sei hart geblieben, vom Wohlstand, den der Westen doch versprochen habe, nichts zu spüren. Eine Herkules-Aufgabe, Afghanistan nach 30 Jahren Krieg nicht nur Frieden, sondern auch wirtschaftlichen Fortschritt zu bringen. Bei ISAF mahnt man immer wieder zur Geduld, aber die fehlt oft auch in Afghanistan selbst.

    "Wir waren froh, dass internationale Truppen in Afghanistan ankamen. Aber nachher - was wir erwartet haben, haben wir nicht erreicht. Am Anfang wurde erwartet, die Gruppen werden entwaffnet. Das hat ISAF nicht gemacht. Eigentlich ich habe gar keine Hoffnung. Es wird immer schlimmer bei uns."