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Von Königsberg nach Kaliningrad

Walter Scheffler:

Heinz Dieter Kittsteiner | 09.02.2004
    Ein Tag mit Kant

    Frühmorgens
    Des grauen Ordensschlosses breiter Rücken
    und tiefer Gärten grüner Wipfelstrauß
    umfrieden treu des Denkers stilles Haus,
    die blanken Scheiben frei ins Frühlicht blicken.

    Der Turmuhr Zeiger sacht auf sechse rücken -
    Kant ist längst wach und raucht sein Pfeifchen aus,
    durchdenkt den Vortrag, schaut ins Grün hinaus,
    lauscht einem Vogelliede voll Entzücken.

    Des jungen Tagsgestirnes Leuchten strahlt
    vom reinen Angesicht des Weisen wieder;
    vor seinem geistestrunknen Auge malt

    sich eine morgenneue Welt der Brüder,
    dem Gotte folgend, der im Innern spricht,
    in reinstem Wollen ordnend Recht und Pflicht.



    So beginnt er - der Tag mit Kant in Königsberg, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
    Die Königsberger können nach Kant die Uhr stellen. Die kleine Welt des großen Philosophen ist wohlgeordnet. Vom Ufer des Pregel aus, richtet er den Blick hinauf zum gestirnten Himmel, wagt den Ausblick in das Feld der göttlichen Allmacht.

    Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke; sie ist mit immer zunehmenden Graden der Fruchtbarkeit die ganze Folge der Ewigkeit hindurch wirksam. Es werden Millionen und ganze Gebirge von Millionen Jahrhunderten verfließen, in welchen immer neue Welten und Weltordnungen nacheinander sich bilden und zur Vollkommenheit gelangen werden. Niemals ist die Schöpfung vollendet; sie ist immer geschäftig, neue Dinge und neue Welten hervorzubringen; und sie braucht nichts weniger als eine Ewigkeit, um die ganze grenzenlose Weite der unendlichen Räume mit Welten ohne Zahl und ohne Ende zu beleben. Aber alles, was einen Anfang und Ursprung hat, muß auch vergehen und ein Ende haben.
    (...)
    Unzählige Tiere und Pflanzen werden täglich zerstört und sind ein Opfer der Vergänglichkeit; aber nicht weniger bringt die Natur durch ein unerschöpftes Zeugungsvermögen an anderen Orten wiederum hervor und füllt das Leere aus. Beträchtliche Stücke des Erdbodens, den wir bewohnen, werden wiederum in dem Meere begraben, aus dem sie ein günstiges Zeitalter
    hervorgezogen hatte, aber an anderen Orten ergänzt die Natur den Mangel und bringt andere Gegenden ans Licht, die in der Tiefe des Wassers verborgen waren, um neue Reichtümer ihrer Fruchtbarkeit über dieselben auszubreiten. Auf die gleiche Art vergehen Welten und Weltordnungen und werden von dem Abgrunde der Ewigkeiten verschlungen; dagegen ist die Schöpfung immerfort geschäftig, in anderen Himmelsgegenden neue Bildungen zu verrichten.
    Lasst also unser Auge an diese erschreckenden Umstürzungen als an die gewöhnlichen Wege der Vorsehung gewöhnen und sie sogar mit einer Art Wohlgefallen ansehen.



    Wie kein anderer Philosoph hat Immanuel Kant die Welt bewegt - kosmisches Neuland erschlossen, das niemand vor ihm betrat.
    Kant war Revolutionär. Und er war Lehrer - ein Lehrer, der es meisterhaft verstand, sein Wissen und seine Weltsicht weiterzugeben, zum Beispiel an seinen Schüler Johann Gottfried Herder:

    Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglinges, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die Gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit eben dem Geist, mit dem er Leibnitz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte, und die Naturgesetze Keplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Roußeau's, seinen Emil und seine Heloise, so wie jede ihm bekannt gewordene Natur-Entdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert des Menschen. Menschen- Völker- Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung, waren
    die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorteil, kein Namen-Ehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf, und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüt fremde. Dieser Mann, den ich mit größester Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir.


    Immanuel Kant hat die Richtung gewiesen hin zu einem Weltbürgerrecht, hin zu einer Welt ohne Angriffskriege - ist doch der Angriffskrieg für ihn

    der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten.

    Kant wurde - und wird - häufig verkannt. Und das ist geradezu ideal für Biografen - liefert ihnen doch Kant Stoff für immer neue Biografien. Zum 200. Todestag des Philosophen sind gleich drei auf dem deutschen Buchmarkt erschienen. Heinz Dieter Kittsteiner hat sie gelesen.

    Nach wie vor gilt die Biographie als der Königsweg, um sich mit Leben und Werken der Großen des Geistes vertraut zu machen. Drei neue Bücher über Kant sollen vorgestellt werden: die umfangreiche Biographie von Manfred Kühn, eine etwas schmalere von Steffen Dietzsch und das Buch "Kants Welt" von Manfred Geier. Alle drei Autoren stehen vor dem gleichen Problem: Hatte der große Denker überhaupt ein bemerkenswertes Leben?

    Manfred Kühn benennt diese Schwierigkeit der Biographen gleich zu Beginn seines Buches: Kant hat das typische Leben eines Gelehrten des 18. Jahrhunderts geführt. Aus Königsberg ist er nie hinausgekommen. Außerdem galt er als frauenfeindlich, so dass auch auf diesem beliebten Felde des Biographischen nicht viel zu erwarten ist. Auf der anderen Seite ist sein philosophisches Werk so schwierig, dass es dem Durchschnittsleser kaum zu vermitteln ist. Hinzu kommt, daß Kants große Schriften, die drei "Kritiken" die seinen Weltruhm begründet haben, Alterswerke sind. Erst mit 57 Jahren veröffentlicht er seine "Kritik der reinen Vernunft". In einem Alter, in dem die Leute sich heute frühverrenten lassen, hat er überhaupt erst seinen denkerischen Durchbruch erreicht. Das hat aber auch zur Folge, dass die Berichte von Zeitgenossen aus diesem relativ späten Stadium stammen.

    Die meisten Anekdoten erzählen von dem schon berühmten Mann und seinen Sonderbarkeiten. Wie Kant gelebt hat, als er zwanzig oder dreißig war, ist bei weitem nicht so gut dokumentiert.

    Was steht dem Biographen zur Verfügung? Natürlich der Briefwechsel und dann die Berichte der drei Theologen Borowski, Jachmann und Wasianski, die kurz nach Kants Tod erschienen. Die aber haben rechtfertigenden Charakter und sollten anderen Schriften entgegentreten, die gewollt oder ungewollt Kants Ruhm bekrittelten. Bei Kühn wird man in diese Quellenlage eingeführt; die beiden anderen Autoren kommen gleich zur Sache. Natürlich nehmen sich alle Biographen vor, das Diktum von Heinrich Heine zu widerlegen, der große Kritiker der Metaphysik habe weder "Leben noch Geschichte" gehabt.

    Beginnen wir mit dem Buch von Manfred Geier: Kants Welt. Sein Vorzug ist ein klarer Grundriss. Zwischen selbstbestimmtem Freiheitsdrang und fremdbestimmtem Daseinszwang spielt sich das philosophische Drama ab. Es beginnt mit Spekulationen über die "lebendigen Kräfte" in der Natur; dann aber folgt schon 1755 der Geniestreich mit der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels."
    Wer einen Blick in diese Schrift wirft, sieht sogleich den theologischen Hintergrund der Kantischen Kosmologie. Haben die Anhänger Epikurs recht, dann organisiert sich der Weltbau nach mechanischen Gesetzen; eine göttliche Weltregierung wäre dann überflüssig. Kant schlägt einen Kompromiss vor und rettet zugleich Gott und die Welt. Seine Materie, der Urstoff aller Dinge ist einer höchsten Weisheit unterworfen und kann daher gar nicht anders, als einen "Kosmos" hervorbringen, eine "schön geschmückte Welt".

    Wer sich für die Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert interessiert, für Newton und Leibniz, für Kants Kritik an dem "Geisterseher" Swedenborg, wird hier auf seine Kosten kommen. 1770 bewirbt sich Kant um eine Professorenstelle; er bekommt aber nicht die angestrebte Stelle für Moralphilosophie, sondern wird schließlich Professor für Logik und Metaphysik. Manfred Geier leitet Kants lange Publikationspause aus dieser Situation ab: Was soll er zur Metaphysik sagen, wo er doch Moralphilosoph werden wollte? Insofern wäre die "Kritik der reinen Vernunft", dieses Grundbuch der modernen Philosophie, lebensgeschichtlich betrachtet eine "Verlegenheitslösung aus Pflichtgefühl."

    Die Freunde belustigen sich schon über den Professor, der nichts mehr zu Papier bringt. Dann kommt 1781 die "Kritik der reinen Vernunft" – sie stößt zunächst auf Verständnislosigkeit. Kant schickt zur Erläuterung die "Prolegomena" hinterher, in denen er schreibt, wer nun auch die zu "dunkel" finde, solle doch bedenken, dass es noch andere Tätigkeitsfelder als die Metaphysik gebe. Niemand kann von einer Biographie erwarten, einen Aufriss der ersten Kritik zu geben, noch ganz und gar, wie die drei "Kritiken" zueinander stehen. Darüber existiert eine umfangreiche Fachliteratur. Nicht umsonst heißt es bei Goethe und Schiller über Kant:

    Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.

    Die Kritik der reinen Vernunft beantwortet die Frage "Was kann ich wissen"; grenzt also den Bereich des sicher Wissbaren gegen die vormalige Metaphysik ab, die über Gott und die Welt spekuliert hatte, ohne zu bedenken, was aus unseren Verstandeskräften wird, wenn sie den Bereich der Erfahrung überschreiten. Den nun aus der Wissenschaft verstoßenen metaphysischen Ideen der Vernunft bereitet Kant ein neues Asyl in der praktischen Philosophie. Sie beantwortet die Frage "Was soll ich tun?" Und schließlich, da zwischen den Ansprüchen des "Kategorischen Imperativs" und der Welt wie sie ist, ein Abgrund klafft, muss eine dritte "Kritik" Probleme der Teleologie – einer hypothetischen Zweckmäßigkeit der Welt – und einer die Moral förderlichen Ästhetik aufwerfen.

    Damit hat Kant Anstöße zu einer neuen "Metaphysik" auf Grundlage seiner Transzendentalphilosophie gegeben, die dann in den Deutschen Idealismus hinüberleitet. Orientierende Anläufe, dieses immense philosophische Programm zu erläutern, findet der Leser bei Manfred Geier und bei Manfred Kühn; die Schrift von Steffen Dietzsch hat darauf fast ganz verzichtet. Dabei gibt es Schlüsseltexte, wie die Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft", die sich angeboten hätten, en bloc analysiert zu werden, denn dort fällt der Begriff von der "Kopernikanischen Wende", und man kann sich auch verdeutlichen, wie theoretische und praktische Philosophie bei Kant zusammengehören.

    Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der speculativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transcendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen.

    Überträgt man Kants berüchtigte Bandwurmsätze in unsere Umgangssprache, so bedeutet das, dass der Königsberger Philosoph die metaphysische Suche nach dem Unbedingten auf das Feld der Moralphilosophie verlagert hatte. Es gibt Erkenntnisse a priori, d.h. vor aller realen Erfahrung; sie sollen aber nur möglich sein als die Ideen der Moral. In dieser Gewißheit schwingt sich der sonst eher trockene Professor zu einem Pathos auf, das in den Zitatenschatz der deutschen Sprache eingegangen ist.

    Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

    Das eigentlich Biographische, die Jugendjahre Kants, die Erziehung im Elternhaus, das Pietistische Königsberg, die Schuljahre, die Universität "Albertina", die Phase des "eleganten Magisters" und Kants spätere Tischgesellschaften sind in allen drei Büchern mehr oder minder ausführlich beschrieben. Bei weitem am gründlichsten bei Kühn.

    Im Grunde sind hier drei ganz unterschiedliche Bücher über Kant anzuzeigen. Das Werk von Manfred Kühn erfüllt alle Bedingungen, die man von einer klassischen intellektuellen Biographie erwarten darf. Es ist aber auch doppelt so umfangreich, wie die beiden anderen. Der Leser muss sich die Zeit nehmen, die fast 500 Seiten Text nebst Anmerkungsteil durchzustudieren. Dafür bekommt er dann eine gründliche Darstellung beispielsweise auch der politischen und religiösen Kämpfe, in die sich der späte Kant seit seiner Parteinahme für die Französische Revolution und durch seine Schrift über die "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" verstrickt sah.

    Das Buch von Manfred Geier ist wesentlich kompakter, behandelt die wichtigsten Partien seiner Philosophie, allerdings mit einem Schwerpunkt auf Kants physikalisch-metaphysischen Interessen, und so ist es nur konsequent, wenn es mit einer Würdigung des lange verkannten "Opus Postumum" schließt. Etwas zu kurz gekommen ist in allen drei Bänden die Geschichtsphilosophie Kants, die etwa in der Mitte zwischen Lessing und Hegel steht und insofern bahnbrechend für den Deutschen Idealismus geworden ist.

    In dem Buch von Steffen Dietzsch tritt das Denken Kants streckenweise in den Hintergrund; eigentlich ist es gar keine richtige Biographie, sondern in weiten Teilen eine Königsberger Stadtgeschichte, die einen Schwerpunkt auf das Verhältnis der Stadt, der Universität und des Philosophen zur Judenschaft im Zeitalter der Aufklärung legt. Der Abdruck von bisher unveröffentlichten Vorworten zu Vorlesungsverzeich-nissen der Königsberger "Albertina" – aufgefunden im Staatsarchiv Olsztyn (Allenstein) –, von denen einige vielleicht von Kants Hand sein könnten, vermittelt einen Eindruck von dem feierlichen Ernst des damaligen Studiums – jedenfalls seitens der Universität. Zu neuen Erkenntnissen über Kants Philosophie tragen diese Dokumente indes nichts bei.

    Der Schreibstil von Kühn ist solide wie das ganze Buch. Die auftretenden Personen sind eingangs aufgeführt, so dass der Leser sich immer wieder orientieren kann. Eigentlich ist es eine Übersetzung aus dem Englischen; der Autor war lange Zeit Philosophieprofessor in den USA.

    Das Buch von Steffen Dietzsch kommt lockerer daher, löst sich aber bisweilen in Detailstudien auf. Das mag damit zusammenhängen, dass hier Archivmaterial verarbeitet wurde, das Einzelheiten etwa über Kants Amtsführung als Dekan der Universität ausbreitet. Die war nämlich durchaus nicht nach dem Motto "Pflicht! du erhabener Name" beschaffen, sondern der alternde Philosoph betrieb seine Amtsgeschäfte eher nach dem Motto: "Kommst Du heut nicht, kommst Du morgen."

    Der Preis für die gewollte oder ungewollte Stilblüte aber kommt dem sonst durchaus schätzenswerten Buch von Manfred Geier zu. Auf Seite 17 findet der Leser den Satz: "An seine Geburt und seine ersten Jahre hat Kant sich nicht erinnert." Da könnte man mit Graf Bobby sagen: "Aber wem passiert das schon! - unter Tausenden kaum einem."

    Alle drei Autoren hatten sich vorgenommen, den Satz von Heinrich Heine zu korrigieren, Kant habe weder "Leben noch Geschichte gehabt". Dieses Nichts aber beschreibt Heine in seiner immer noch lesenswerten Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" in romantischer Ironie so anmutig, dass wir es nicht lassen können, ihn herbeizuzitieren:

    Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben, in einem stillen, abgelegenen Gäßchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, daß die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte, wie ihr Landsmann Immanuel Kant. Aufstehn, Kaffetrinken, Schreiben, Kollegien, Essen, Spazierengehn, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbarn wußten ganz genau, daß die Glocke halb vier sei, wenn Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustüre trat und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt.

    Heine benutzte dieses populär gewordene Bild, um den Kontrast zu den weltzermalmenden Gedanken dieses kleinen Männchens hervorzuheben. Die aber hat er beschrieben mit einer Sprachgewalt, die noch keine Philosophiegeschichte seither wiedergefunden hat. Er vergleicht Kant mit Robespierre: Die Franzosen haben nur einen König enthauptet, der schon den Kopf verloren hatte, ehe er geköpft wurde. Die guten Königsberger indes, die ihren Professor mit seinem Diener Lampe einherwandeln sahen, hätten eine grauenhafte Scheu vor jenem Manne empfunden, hätten sie gewusst, wen Kant hingerichtet hatte.

    Immanuel Kant hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitigen Belohnungen für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit dem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte.

    Da beweist Immanuel Kant, dass er nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist. Und weil der arme Lampe seinen Gott haben muss, lässt Kant ihn als Idee der praktischen Vernunft wieder auferstehen. Das alles ist philosophisch nicht ganz so korrekt, aber es ist nirgends schöner beschrieben als eben bei Heinrich Heine. Auch dessen also sollte man sich im Kant-Jahr erinnern.

    Immanuel Kant, geboren 1724 in Königsberg, gestorben 1804 daselbst, war die längste Zeit seines Lebens Untertan Friedrichs des Großen, geboren 1712, gestorben 1786. Friedrich wusste nicht, welche Kapazität er da in seinem Königsberg als "Weltweisen" sitzen hatte. Kant hingegen hat ihm noch 1784 ein Denkmal gesetzt, wenn auch ein widersprüchliches. Denn in seiner Schrift "Was ist Aufklärung" tritt Friedrich als Garant der Gedankenfreiheit auf, gestützt allerdings auf das preußische Militär:

    Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldicipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!

    Kant schließt sogar dialektisch, dass eigentlich nur unter dieser harten Hülle der "Hang und Beruf zum freien Denken" entwickelt werden könne – bis dann diese Grundsätze auch zur Regierung hinaufdringen und sie endlich begreife, dass der Mensch mehr sei als eine "Maschine". Dieser "harten Hülle" des preußischen Staates waren die Königsberger für eine gewisse Zeit entronnen: Ausgerechnet unter der russischen Besetzung in den Jahren 1758 - 1762. Denn im Verlauf des Siebenjährigen Krieges musste Königsberg aufgegeben werden.

    Russisches Militär zog ein – aber diese Adligen hatten einen etwas anderen Lebensstil als die preußischen Krautjunker. Mit den Russen kam die französische Küche, kam Geld, Handel und Wandel in die Stadt. Punschtrinken, Tischgesellschaften, Maskenbälle. Alle Beamten mussten einen Treueeid auf die Zarin Elisabeth schwören. Viel Wohlwollen brachten die Russen der Universität entgegen; ihre Offiziere besuchten die Vorlesungen. Kant verkehrte damals ungezwungen in diesen Adelskreisen; es waren jene Jahre, in denen er der kleine "elegante Magister" war.

    Heute heißt Königsberg Kaliningrad; und die zweite russische Besetzung ist anders als die erste. Aber die Sowjets haben sich inzwischen wieder in Russen verwandelt. Und der Name Immanuel Kant bleibt untrennbar mit Königsberg und jetzt mit Kaliningrad verbunden. Kant ist zum Welt-Philosophen geworden und gehört allen. In der "Kritik der reinen Vernunft" hatte er selbst genau definiert, was das "Ideal des Philosophen" zu sein hat. Nicht Wissenschaftler nach dem Schulbegriff – das seien nur "Vernunftkünstler". Sondern der Weltweise denkt über das nach, "was jedermann nothwendig interessiert" und wird zum "Gesetzgeber der menschlichen Vernunft". Das ist Immanuel Kant gewesen.

    Steffen Dietzsch
    Immanuel Kant. Eine Biografie
    Reclam, 368 S., EUR 24.90

    Manfred Geier
    Kants Welt. Eine Biografie
    Rowohlt, 350 S., EUR 24.90

    Manfred Kühn
    Kant. Eine Biografie
    C.H. Beck, 639 S., EUR 29.90