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Von Lack, Schmerz und China

Das Papier habe ihn immer vor dem Leben geschützt, sagte John Updike in einem Interview. Die Schriftstellerfiguren in Bruno Steigers neuem Roman Erhöhter Blauanteil kämen wohl ausnahmsweise aus der Deckung, um diesem einen Satz zuzustimmen. Auf fatale Weise ähneln sie in ihrer Unwägbarkeit den schweigenden Herren mit den schwarzen Melonen in den Bildern René Magrittes. Schon der Titel entfaltet eine mysteriöse Sogkraft: Ist Erhöhter Blauanteil ein neutrales Urteil aus der bildenden Kunst, oder bezeichnet es einen Mangel im industriellen Bereich, etwa in der Farb- und Lackherstellung? Erst zum Schluss trifft des Rätsels Lösung ein, mit der Schweizerischen Bundespost. Es hat mit Peter Handkes Erzählung "Der Chinese des Schmerzes" von 1983 zu tun, aber nur im materiellen Sinne – mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Auch Bruno Steiger hüllt sich in Rätsel:

Von Katrin Hillgruber | 23.08.2004
    Dieser mysteriöse Titel wurde eigentlich in Zusammenarbeit mit dem Verleger kreiert. Der anfängliche Titel war "Versuch über Handkes Humor", den wollte man nicht. Und dann haben wir gemeinsam schon vor Abschluss des Manuskripts nach einem Titel gesucht, der dann auch seine Konsequenzen für den Text gehabt hat. Und über den Hintergrund des Titels, da müsste man jetzt schon ins Buch einsteigen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich den Titel, der sehr wichtig ist und erst am Schluss zu seinem Bild kommt, ob ich hier diesen Titel überhaupt erklären möchte. Jedenfalls mit bildender Kunst hat’s gar nichts zu tun. Aber die Assoziation blau, Romantik, die hat schon ihre Richtigkeit.

    Von Anfang an prägen charmante Schieflagen und absurde Konstruktionen den Roman. Da ist zum einen der vierzigjährige Andreas Steindorf, der als möblierter Zimmerherr bei einer Frau Ambach in deren weitläufiger Altbauwohnung lebte. Als die wortkarge Angestellte des Fotoarchivs der Kulturstiftung Mittelland – der Autor frönt begeistert solchen Formalien – von ihrem Arbeitgeber eine Zweizimmerwohnung gestellt bekommt, zieht der Untermieter einfach mit ihr um, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Unbeirrt von den hausmusikalischen Neigungen seiner Vermieterin setzt der ruhebedürftige manische Leser die Menage à deux fort.

    Frau Ambach bleibt schemenhaft, auch weil sie nur in indirekter Rede zitiert wird. Steindorf, der anfangs unter einer Schreibhemmung wie unter dem ungewohnten Verkehrslärm leidet, macht als Schriftsteller Karriere: ein Stipendium im Tessin, den Literaturpreis einer norddeutschen Kleinstadt und die daraus resultierenden komischen Momente inbegriffen. Zwischendurch verschwindet Frau Ambach, dann öffnet sie ihrem Untermieter nach zehn Jahren wieder die Tür, als sei nichts gewesen.

    Andreas Steindorf, sein Dichterfreund Friedrich Dalm, der schreibende Maler Balthasar und schließlich der Ich-Erzähler selbst, Verfasser einer, wie es heißt, "vom kantonalen Tiefbauamt angeregten Studie zur Formgeschichte der Rahmen und Podeste": Dieses Freundesquartett erprobt die De- und Rekonstruktion des Humors in der wirklichen Welt. Dabei beziehen sich die vier abwechselnd auf Handkes Held Loser aus "Der Chinese des Schmerzes".

    Es ist so, dass mein Roman seinen Ursprung tatsächlich in einem Essayauftrag über Handkes Humor hatte, ein Auftrag für eine prominente deutsche Literaturzeitschrift. Ich hab mich dann intensivst noch einmal mit Handkes Werk befasst. Es war so, dass ich das gesamte erzählerische Werk von Handke auf das Stichwort Humor durchgelesen habe und mir die Dinge herausgeschrieben habe dort, wo das Wort explizit genannt wird und wo Handke den Begriff thematisiert. Ich bin dann aber so weit gekommen, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, wenn du jetzt analytisch da vorgehst, dann verrätst du eigentlich das Wichtigste von Handkes Humor, so dass es sich anbot, das Ding erzählerisch anzugehen, nicht in einer irgendwie hermeneutischen Art und Weise, um eben diesen spezifisch literarischen Humor zu bewahren und gleichzeitig ihn in meinem eigenen Text zu realisieren auch für mich.

    So beschließt Steindorf, auf das Rätsel von Handkes Komik "alle ihm zu Gebote stehenden Verstehensenergien" zu konzentrieren. Das geht entsprechend abstrakt vonstatten. Mach mal Pause vom Nominalstil, möchte man bei solchen Passagen dem Autor zurufen. Da überrascht er im nächsten Moment mit einer obskuren Randfigur wie dem "letzten freien Zahnarzt Westeuropas", einer Poetologie des Radiergummis oder einer Philippika gegen die Farbe Gelb als diabolische Botschafterin eines "Gefühls von Verlassenheit und Panik".

    Eine Motivation seiner Autorschaft sei die "Ermüdung des Ironischen" in ihm, sagt der 1946 geborene Bruno Steiger, der in seiner Geburtsstadt Zürich lebt. Seine 2001 erschienene groteske Erzählung "Der Billardtisch" schildert die Umkehrung der Machtverhältnisse in der Kleinfamilie eines Schriftstellers zugunsten eines Fünfjährigen. In ihr taucht Zürich erstmals als Erzählort auf. Im neuen Buch, das eher in der Tradition der Künstlernovelle steht, ist von der "Stadt am See" die Rede.

    Meinen Lebensort rein zu bringen, das hat ja schon bei meinem letzten Buch angefangen, "Der Billardtisch", und ich hab fast den Verdacht, das hat ein bisschen mit dem Alter zu tun bei mir und mit dem späten Gründen einer Familie, aber vor allem mit dem Älterwerden, indem, wenn ich zurückblicke, sehe ich, dass ich, als ich in den achtziger Jahren zu schreiben begann, habe ich das feste Ziel und das Programm nie über mich selber, nie über den Ort, an dem ich wohne, und vor allem nie über die Schweiz zu schreiben. Das war dann damals eigentlich die große hohe Zeit von Frisch und Dürrenmatt. Und ich konnte mich einfach nicht entschließen, in diese Schweizszenarien und -beobachtungen und -betrachtungen einzusteigen. Das hat sich dann doch mit der Zeit gegeben. Es ist sogar so, dass ich heute sehr gerne Frisch lese.

    Wie bei Peter Handke lässt sich bei Bruno Steiger die Herstellung von Wirklichkeit durch Sprache gleichsam in Echtzeit beobachten. Ist er ein langsamer, gar ein auf Schweizerische Weise langsamer Schriftsteller?

    Ich muss sagen, eine Verlangsamung sehe ich nicht in meinen Texten. Ich glaube, es geht um Genauigkeit und darum, die Dinge in Facetten zu sehen, die man gemeinhin übersieht, die man auch in der Literatur sehr oft übersieht. Eine nenne ich hier, eine Facette, die zu vermitteln nicht leicht ist. Und erst halt doch über diese Widersprüchlichkeit gelingt nämlich, das ist die Facette dessen, dass alles Wahrgenommene wie auch jeder Satz darüber – das ist meine Meinung – trägt in sich sein oder ihr Gegenteil, ihren eigenen Widerruf. Und den immer mitschwingen zu lassen in meinen Sätzen, das ist schon ein wichtiges Anliegen für meine Art zu schreiben. Robert Walser liegt natürlich schon nahe. Ich hab in "Der erhöhte Blauanteil" oft auch an Gerhard Meier gedacht. Er wird sogar an einer Stelle fast, also nicht nur fast zitiert, er wird mit einer seiner beliebtesten stilistischen Wendungen eigentlich gegrüßt.

    Peter Handkes Essay
    Nachmittag eines Schriftstellers gerinnt für seine Schweizer Adepten zu produktiven Glücksmomenten, die sich auffallend oft an Samstagnachmittagen einstellen. Und so setzt sich das weiße Rauschen im Erhöhten Blauanteil munter fort, einem Roman, der eher von Lesenden als von Schreibenden handelt, und der die Verstiegenheit nicht scheut. "Für die, die es geben muss" lautet die Widmung des Buches. Bruno Steiger sagt dazu:

    Diese Widmung – es ist lustig, ich werde immer fast zuallererst auf diese Widmung angesprochen. Man könnte aus dem Stand 15 Lesarten dieser Widmung herzählen. Die eine für mich sehr wichtige ist eine eher private, eine andere ebenso wichtige ist für die, die es geben muss, dass man den Satz auf Romanfiguren bezieht. Wenn es etwas geben muss, dann sind es für mich jetzt – ich spreche jetzt einfach als Schriftsteller – vor allem Romanfiguren, meine und alle anderen auch.

    Bruno Steiger
    Erhöhter Blauanteil
    Nagel & Kimche, 136 S., EUR 14,90