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Von Lebenden und Toten

In seinem Buch "Der symbolische Tausch und der Tod" hatte Jean Baudrillard 1976 die "Ausschließung der Toten und des Todes" in unserer Gesellschaft untersucht. Es ging ihm darum, einen Bereich des Verfemten zu beleuchten, der den der ausgeschlossenen Wahnsinnigen, Kinder, Behinderten, Alten, niederen Rassen ergänzte. Drei Dezennien später hat sich an diesem Befund nichts geändert, im Gegenteil. Die Nachfrage nach anonymen Begräbnissen steigt - sei es auf einem regulären Friedhof, sei es in ausgewählten Arealen eines Waldes. In dem Bewußtsein, vergessen zu werden, wählen die Sterblichen heute noch zu Lebzeiten diese Form der Bestattung, denn welchen Sinn machte es dann noch, durch besondere Zeichen darauf hinzuweisen: Hier liegt X. ?

Von Bernd Mattheus | 08.01.2007
    Insofern ist eine der Kernthesen Harrisons so unpopulär wie provokativ zugleich: "Wo die Toten einfach tot sind, sind die Lebenden in gewissem Sinne ebenfalls schon tot. Umgekehrt erhält dort, wo das jenseitige Leben der Toten neues Leben empfängt, die Erde als ganze einen neuen Segen."

    Ohne Zweifel zählen Bestattungsrituale zum ältesten Erbe des Menschen. Jedes Begräbnis bedeute Abschluss und Trennung, aber auch Humanisierung des Bodens für die Lebenden, hebt der Autor hervor. Seine Essays kreisen um die "humischen Fundamente unserer Lebenswelten", worunter zu verstehen sei, dass ihr Inhalt einst begraben wurde. Dies schließt, neben den eigentlichen Grabstätten, den Nekropolen, das Haus, die Stadt, Monumente, die Literatur und die Künste ein - im weitesten Sinne alles, worin Vergangenheit symbolisch gespeichert wird und zum Abruf bereit steht. Human, humanity, also Mensch und Menschheit charakterisiert der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler nicht allein durch das Todesbewußtsein, sondern durch praktizierten Totenkult, das heißt die Beziehung zu den Toten. So lautet denn auch der Originaltitel des Buchs Die Herrschaft der Toten - nicht des Todes, worauf noch zurückzukommen sein wird. Die Brücke zur Schrift und des weiteren zur Literatur schlägt Harrison mit der behaupteten Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes für Zeichen, sema, mit dem auch das Grab benannt worden sei. Hegel mutmaßte, gedacht an die Pharaonengräber, dass die frühesten Inschriften dem Gedächtnis der Verstorbenen gewidmet waren. Der Autor bezieht sich auf ethnologische Studien zu Trauer-Ritualen in Südeuropa, wenn er nicht antike Totenklagen mit zeitgenössischer Poesie ins Verhältnis setzt. Seine Inspirationsquellen zum zentralen Thema des "Hauses als Ort eines Nachlebens" sind zum einen Giambattista Vico, zum anderen Fustel [sprich: fystel] de Coulanges, ein Philologe des 19. Jahrhunderts.

    In Vicos Grundzügen einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker von 1744 findet Harrison bestätigt, dass das ursprüngliche antike Haus "nicht lediglich eine Wohnstatt war, sondern eine Institution, welche die Lebenden mit den Toten, die Toten mit den Ungeborenen und die Familie mit ihrem angestammten Grund und Boden verknüpfte." Coulanges stellt in seinem Werk Der antike Staat gar die Hypothese auf, "dass die antike Stadt auf den Fundamenten des antiken Hauses erbaut war und dass das antike Haus seinerseits auf dem Grab des Vorfahren errichtet war. (...) Es gibt sogar Hinweise vom Range textlicher Spuren, die darauf schließen lasen, dass die Toten manchmal im Innern dieser Altäre im Haus untergebracht wurden, dass daher das Haus im wörtlichen wie im übertragenen Sinne auf ihren Gräbern errichtet war und eine Art Mausoleum rings um sie bildete."

    Thematisch Nähe entdeckt der Autor in Henry David Thoreaus Prosagedicht Walden, or the life in the woods. Geleitet vom Traum des heidnischen Paradieses hatte sich Thoreau für zwei Jahre von der Zivilisation in eine Blockhütte in den Wäldern von Massachusetts zurückgezogen. Die neoromantische Verklärung des einfachen Lebens nahm in Martin Heideggers Hütte in Todtnauburg ebenfalls Gestalt an.

    Weitere motivische Verknüpfungen zum Haus als Ort eines Nachlebens bieten Harrison u.a. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, insbesondere dessen Meditationen angesichts eines sich im Abbruch befindenden Hauses in Paris. Die bloßgelegte Backsteinwand weist zahllose Spuren von einstigem Leben auf.

    Harrisons materialreicher Parcours durch Jahrtausende von Mythologie, Religion, Philosophie und Dichtung ist jedoch nur stimmig, sofern er ausblendet, was jenseits des westlichen Kulturhorizonts geschah und nach wie vor gelebte Realität ist. So stehen die Pyramiden zum Beispiel im extremen Gegensatz zu den ortlosen Gräbern der Nomaden. Oder zum Privileg der Kremation in Indien: die Asche des Toten trägt der Fluß davon. Das ephemere traditionelle japanische Haus, das nicht auf Dauer ausgelegt ist, vereinbart sich gleichwohl mit Hausaltar, Ahnen- und Totenkult. In asiatischen, orientalischen, afrikanischen Stammesgesellschaften gilt das Gesetz der Ältesten und Ahnen, ist die Dominanz der Toten gelebte Gegenwart.

    Der Ausruf des Dichters, Malers und Visionärs William Blake, ein Zeitgenosse Sades, taugte für jedwede geistige Revolte: "Fahrt euren Pflug und eure Pflugschar über die Knochen der Toten." Harrisons Buch dagegen kulminiert in einer antipodischen, neokonservativen Botschaft. In höchster Not, wenn Vertraute oder Mitmenschen versagten, sei die Hilfe seitens der Toten erforderlich. In traditionellen Gesellschaften opfert man ihnen deshalb regelmäßig.

    "Der Hauptgrund dafür, dass die Toten in so vielen menschlichen Kulturen ein Nachleben führen, ist der, dass es ihnen- den Toten - obliegt, zu Hilfe zu kommen und Ratschläge zu geben, wenn sich jene niederdrückende Dunkelheit herabsenkt. Weshalb diese besondere Autorität? Weil die Toten eine Nachtsehkraft besitzen, die sich die Lebenden nicht aneignen können. Das Licht, in dem wir unser säkulares Leben führen, macht uns für gewisse Einsichten blind."