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Von Leid, Schmerz und Furcht

In der Kunst hat das Tragische eine nicht enden wollende Hochkonjunktur: Kaum ein Theaterabend oder kein neuer Kunstfilm, der nicht von der Ästhetik des Schreckens kündet. Karl Heinz Bohrer geht es bei seiner Analyse nicht in erster Linie um Gefühle, sondern um ihre Darstellung in dreierlei Gestalt: Erscheinung, Pathos, Klage.

Von Christoph Bartmann | 17.09.2009
    Ein einziges Mal wird Karl Heinz Bohrer in seinem großen Buch über "Das Tragische" persönlich: als er im Vorwort die "Erinnerung an eine Aufführung von Aischylos' Agamemnon durch die Oberprima meines Gymnasiums" ins Spiel bringt. "Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt", schreibt Bohrer weiter, noch kein Wort vom altgriechischen Original der Inszenierung verstand, kam keiner der vielen späteren Abende der frühen Faszination gleich, die sich in der Fragestellung des Buches noch immer abbildet."

    Bohrers Schlüsselwort ist hier genannt: Es heißt "Faszination" und nicht etwa, was man bei einem Buch über das Tragische auch erwarten könnte, "Leid", "Schmerz" oder "Furcht". Nicht um Gefühle geht es Bohrer in erster Linie, sondern um ihre Darstellung, nämlich in dreierlei Gestalt: Erscheinung, Pathos, Klage. Das Tragische ist ein theatrales, oder mit einem Lieblingswort der neueren Kulturwissenschaften, "performatives" Phänomen; und als solches löst es im Zuschauer eine Faszination aus, die niemals auf eine moralische Nutzanwendung reduziert werden darf.

    Bohrers Versuch will auf eine Rehabilitation des Tragischen hinaus. Die Literaturwissenschaftler und Philosophen haben das Tragische in dieser oder jener Richtung interpretiert; es käme aber darauf an, es auf sich wirken zu lassen. Ebenso haben Literaturwissenschaftler und Philosophen das Tragische für überholt und erledigt erklärt; es ist aber, wie Bohrer zeigen will, gerade in der Moderne, immerfort anwesend, und zwar unter der Maske des "Nihilismus".

    Die Klammer zwischen der Theorie und Praxis des Tragischen in der Antike und dem modernen Tragikverständnis bildet für Bohrer die Ästhetik des Schreckens, und damit verbunden die Zeitstruktur des Plötzlichen. Das ist keine Überraschung für Bohrer-Leser, denn Bohrer insistiert seit nunmehr 30 Jahren, seit seinem großen Buch über Ernst Jünger auf einer Ästhetik des Schreckens. Wenn Bohrer von Schrecken und Plötzlichkeit spricht, wendet er sich gegen alle Versuche, die ästhetische Einbildungskraft humanistisch, metaphysisch oder sonst wie ideologisch zu zähmen.

    Das ist gerade im Blick auf Tragödie und Tragödientheorie eine wichtige Akzentverschiebung. Keine andere Gattung wird derart von Interpreten belagert, die – von Aristoteles bis hin zu Lessing oder Hegel – dem Schrecken und Grauen ein "sittigendes" und läuterndes Moment unterlegen wollen oder schlicht behaupten, im Fortgang der weltgeschichtlichen Vernunft habe sich das Tragische überlebt. Allein Nietzsche bildet hier eine Ausnahme; kein Wunder also, dass jede sozusagen außermoralische Tragödientheorie in ihm ihren Gewährsmann hat. Ansonsten lässt Bohrer von den Theoretikern der Tragödie eigentlich niemanden gelten. Am Heftigsten polemisiert er gegen eine psychoanalytische Vereinnahmung des Tragischen, so heftig, dass man sich fragt, welche Verdrängungs- und Verbergungstendenz wohl hinter Bohrers Beharren auf "reiner" Tragik ohne Psychologie, Semantik und Geschichte steckt.

    Bohrers moderner Gewährsmann für das Tragische, wie er es meint, ist Baudelaire. Kann das Tragische demnach lyrisch sein? Es kann, denn es geht Bohrer nicht um eine Gattung oder eine Form, sondern um eine bestimmte Art der poetischen Imagination. Bloßes Traurigsein reicht dafür nicht hin. "Tragischer Schrecken und tragische Trauer", so Bohrer, "entspringen der Performance einer besonderen Sprache, die unabhängig von der Handlung und einer tragischen Schuld in Erscheinung tritt."

    Baudelaire, ein großer Kenner der Antike, der ihre Texte im Original lesen konnte, ist für Bohrer der moderne Erbe jener besonderen Sprache. Walter Benjamin hatte Baudelaire als melancholischen Geschichtsphilosophen der zerstörerischen Moderne gedeutet, aber auch dem mag sich Bohrer nicht anschließen. Die lyrischen Bilder des Schreckens und der Grausamkeit weisen nicht auf den Schrecken einer bestimmten Zeit, sondern den Schrecken der Zeit hin. Man kann diese moderne Variation des Schreckens mit einem alten griechischen Wort belegen: Pathos. Das "düstre Schauspiel voller Grauen", an dem die Modernen, angefangen von de Sade bis zu den Surrealisten und weiter, so viel Gefallen fanden, hat keinen besonderen und schon gar keinen moralischen Gegenstand mehr: Es ist gleichbedeutend mit der "modernen künstlerischen Fantasie". Wie diese Fantasie mit der Fantasie der antiken Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides korrespondiert, zeigt Bohrer in einer sorgfältigen Lektüre der Tragödientexte mit ständigem Blick auf die drei performativen Typen der Erscheinung, Angst und Klage.

    Erscheinung, Angst und Klage sind Formen, Theaterformen, ja "Diskurse". Nicht nur die Worte des Ödipus, so Bohrers Mahnung, gilt es zu verstehen, sondern ebenso, wenn nicht noch mehr, die Rolle des Chors, und dort wiederum weniger seine Worte als seine "Darstellung der ästhetischen Funktion der Angst". Die Faszination, von der Bohrer zu Beginn seines Buches spricht, erwächst nicht aus der dialogischen Entwicklung einer Handlung, sondern aus dem In- und Nebeneinander intensiver tragischer Ausdrucksformen.

    In der Moderne hat das von Hegel verabschiedete "Tragische" eine Auferstehung erlebt. Etwa bei Oswald Spengler oder Georg Simmel, aber auch bei Freud und Max Weber, später dann etwa bei Sartre und Camus. Politisch stand das Tragische meist rechts; die Sozialdemokratie, das fiel schon Spengler kritisch auf, hatte oder hat keinen Sinn für das Tragische. In der Kunst hat das Tragische indes eine nicht enden wollende Hochkonjunktur: Kaum ein Theaterabend, keine Kunstperformance oder kein neuer Kunstfilm, der nicht von der Ästhetik des Schreckens, wenn nicht gar vom "Schrecken der Ästhetik" kündet. Der Baudelairesche Nihilismus ist – soweit geht Bohrer nicht, aber so weit könnte man gehen – ist zum Tummelfeld einer geschichtsphilosophisch vergesslichen Avantgarde geworden, die vom ästhetischen Nervenkitzel lebt, ohne recht zu wissen, was sie da überhaupt tut. Auch dies eine Folge der Emanzipation des Tragischen in der Moderne - und beinahe eine tragische.


    Karl Heinz Bohrer: Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. Carl Hanser Verlag, München 2009. 414 S., Euro 24,90