Freitag, 19. April 2024

Archiv


Von Liebhabern für Liebhaber

Ein Buch von Fans für Fans ist der Band "Komponist der Gegenwart" über Hans Werner Henze. Das Werk von Michael Kerstan und Clemens Wolken zum 80. Geburtstag des Musikers taugt indes kaum als Einführung in das faszinierend vielschichtige und zugleich unverwechselbare Schaffen Henzes.

Von Holger Noltze | 28.06.2006
    Es geschah, wo sonst, wie es heißt, selten etwas geschieht, in Hannover, 1952, bei einer Aufführung von "Boulevard Solitude", einer Neufassung des "Manon Lescaut"-Stoffs:

    "Ich erlebte hier zum ersten Mal, dass ein Publikum mir wirklich zuhörte, meine Musik interessierte das Publikum, so wie das Publikum meine Musik interessierte und ich merkte, ich kann machen, dass man mir zuhört."

    Zu den außerordentlichen Qualitäten der Musik von Hans Werner Henze gehört ihre Mitteilsamkeit, ihre Wirksamkeit aufs Publikum. Das machte den 1926 in Gütersloh geborenen und 1953 nach Italien ausgewanderten Komponisten zu einer Ausnahmeerscheinung in der notorisch unter Sprödigkeitsverdacht stehenden Welt der "Neuen Musik": Henze wurde immer gespielt. Und so ist dieses Jahr nicht nur ein Mozart-, ein Schumann- und Schostakowitschjahr, sondern ein bisschen auch ein Henze-Jahr. Das Geheimnis, wie eine Musik solchen Anspruchs, auch: solcher Komplexität im Musikbetrieb bestehen konnte, Henze zum erfolgreichsten Opernkomponisten der Gegenwart werden ließ, - es liegt vermutlich in der Deutlichkeit ihrer Aussage. "Es sind Emotionen, die nach einer Formulierung suchen, nach einer musikalischen Gestalt, so Henze, erschöpft, nach Abschluss seiner letzten Oper "L’Ùpupa oder Der Triumph der Sohnesliebe". Denn das Komponieren ist, daran lässt der Komponist keinen Zweifel, schwere Arbeit:

    "Ich arbeite stark mit dem Gefühl, als Mathematiker können mich abhaken, davon verstehe ich nichts. Aber diese Emotionen zu Papier zu bringen, ist außerordentlich schwierig, es ist eine Schwierigkeit, eine Schreibschwierigkeit."

    Michael Kerstan, unterm anderem Henze-Assistent, und Clemens Wolken, unter anderem Mitarbeiter bei "L’Ùpupa", haben dem Meister zum Jubeljahr einen veritablen Prachtband zusammengestellt. Dies ist auch ein Bilderbuch: einen Großteil machen Inszenierungsfotos aus, vom Dostojewski-Ballett "Der Idiot" 1952 bis zu den jüngsten Produktionen der "Bassariden" in Paris und Amsterdam, die von der großen Bühnenpräsenz des Theaterkomponisten erzählen. Leider erzählen sie nicht, wer drauf ist; die Namen der Regisseure, Dirigenten, Bühnen- und Kostümbildner sind akribisch verzeichnet, rätselhafterweise aber nicht die der Sänger und Darsteller. Daneben immer wieder Partiturseiten, die in der notwendigen Verkleinerung aber von wenig mehr künden als ihrer außerordentlichen Akkuratesse: Henze war von Anfang an ein Noten-Schönschreiber und ist es bis heute geblieben. Da passt es, dass Jörg Widmann, Wunderklarinettist und als Komponist ein Henze-Schüler, von mindestens zwei wichtigen Empfehlungen des Maestro berichtet: erstens, neben den Extremen des Ausdrucks die Mittellage nicht zu vergessen, und zweitens, pingelig zu notieren. Widmann hat es behalten, so wie Mark-Anthony Turnage den Ratschlag, früh aufzustehen: Um fünf am Morgen sitzt er seitdem am Komponistenschreibtisch. Der Meister selbst hat es mit solcher Disziplin zu einem imponierend unüberschaubaren Werk gebracht: zehn Sinfonien, Musiktheater aller Art, Kammermusik und Lieder, daneben ausführliche Werk- und Werkentstehungskommentare, Autobiografisches. Kaum zu glauben, wie viel Engagement ihm da dennoch übrig blieb für zeitraubende musikpädagogische Projekte, von deren produktiver Nachhaltigkeit Michael Kerstan erzählt: von der musikalischen "Gemeinwesenarbeit" im toskanischen Montepulciano, der "Mürztaler Musikwerkstatt" und dem "Jugendmusikfest Deutschlandsberg", der Gründung der Münchener Biennale für Neues Musiktheater, und wie er im oberhessischen Alsfeld einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil zur Mitwirkung der "Kommunaloper" "Die Regentrude" animierte.

    Bücher dieser Art, mehr zum Blättern als zum Durchlesen gemacht, sind Fest- und Jubelschriften. Kerstan und Wolken haben einen ganzen Grußkartenständer von tiefem Dank, teuren Erinnerungen an gemeinsame Großtaten und besten Wünschen zusammengebracht. Dass sich unter den lobredenden Komponisten vor allem die jüngeren Jahrgänge finden, jedenfalls nicht die bedeutenden Kollegen seiner eigenen Generation, sagt als Leerstelle auch etwas aus. Die Gräben zu Boulez, Stockhausen, Ligeti scheinen immer noch tief. Die Machtkämpfe um die reine Lehre der Neuen Musik, so weit sie zurückliegen, sie wirken nach, noch nach 50 Jahren:

    "Einer der Gründe, warum ich Deutschland verlassen und mich in einem Land niedergelassen habe, in dem wenig Musik und schon gar keine Neue Musik ertönt, war der Wunsch, diesen Widerwärtigkeiten aus dem Wege zu gehen."

    So ist es kein Zufall, dass unter den "großen Namen" vor allem Dirigenten vertreten sind. Gerade von ihnen kommt weniger Erhellendes, und warum ausgerechnet Kurt Masurs nicht eben inspirierter Glückwunsch am Anfang steht, muss man nicht verstehen. Ingo Metzmacher bringt ein peinlich prätentiöses Prosagedicht in Kleinschreibung ein; Christian Thielemann lobt spießig die "fast kulinarischen Qualitäten" von Henzes Musik. Simon Rattle fasst sich kurz aber herzlich. Substantielleres steuert Markus Stenz bei, auch wohl ehrlich Emotionales: Stenz gehört zu Henzes Lieblingsdirigenten; dieser zu seinen Lieblingskomponisten, und da bricht es geradezu aus ihm heraus:

    "Diese Schönheit! Dieses tiefe Empfinden! Welches Licht und Dunkel! Welche Farbenpracht! Wo man auch immer hinschaut, die Partituren singen. leben und ergreifen."

    Gepriesen wird übereinstimmend: Henzes unkorrumpierter Sinn für Schönheit, seine Gabe der Leichtigkeit, seine Generosität. Oliver Knussen, Komponist und Dirigent, ist, bei aller Sympathie und künstlerischem Einverständnis, wenig Spezifisches eingefallen:

    "Die Partituren sind voll mit interessanten und einfallsreichen Details."

    Wer hätte es gedacht. Und dann versteigt er sich zu einem veritablen Nonsens:

    "Die Musik ist von einer hochgradigen Großzügigkeit, die sich vermutlich in verschiedenen Aspekten der Persönlichkeit des Komponisten widerspiegelt."

    Doch was sich da wo und wie hochgradig spiegelt, ist vielleicht ja auch nur ein Übersetzungsproblem - das sich womöglich auch hinter Ricardo Chaillys seltsamem Satz verbirgt:

    "Auch seine vollkommene künstlerische und menschliche Reife kann ich nicht von seiner ewigen impulsiven charakterlichen, immer künstlerischen und ideologisch erleuchteten Frische trennen."

    Ideologisch weniger Erleuchtete werden hier nachdenklich. Für manchen Grußadressenblödsinn entschädigt ein längeres Gespräch am Ende des Bandes, mit Henzes italienischem Lebensgefährten Fausto Moroni. Anfang der 60er Jahre hatte er den jungen Fausto, er beschreibt ihn als

    "anscheinend einem Mosaik aus Ravenna entsprungenen byzantinisches Fürstenkind, Kleinbauernsohn und beispiellose Begabung für die Kunst des Lebens."

    Dies Wunderwesen also hatte er als Gehilfe in einem römischen Antiquitätenladen getroffen und ihm erst einmal für eine Million Lire Silberzeug abgekauft, er hatte aber kein Geld dabei. Fausto, der bald Mädchen für alles im Hause Henze wird, erzählt plastisch und ungestelzt und mit ziemlicher Offenheit, wenn er bekennt, dass die ersten zehn Jahre im für ihn fremden Neue Musik-Jet-set bitter anstrengend waren oder dass es auch finanziell schlechte Jahre gab - oder wie es war, als der schussverletzte Rudi Dutschke 1968 zur geheimen Genesung in die Henze-Villa kam, das Anwesen dann aber zwölf Wochen von italienischer Polizei und internationaler Presse belagert wurde.

    Zu den wahrscheinlich unvermeidlichen Paradoxien so eines Mosaik-Porträts gehört es, dass hier immer wieder und sogar im Titel Hans Werner Henze als "Komponist der Gegenwart" gerühmt, dabei jedoch vor allem Vergangenheit beschworen wird. Auch taugt dieser Geburtstagsband kaum als Einführung in das faszinierend vielschichtige und zugleich unverwechselbare Riesenwerk des großen Mannes. Dies ist ein Buch von Fans für Fans. Wogegen nun aber auch nichts zu sagen ist.