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"Von musikalischen Mantras besessen"

Yann Apperry wäre gerne Musiker geworden, doch dafür reichte sein Talent nicht. Dafür fiel ihm das Schreiben leicht. Bereits während seines Philosophiestudiums verfasste er einen ersten Roman - unlesbar wie er heute sagt. Sein Buch "Blue Notes" erhielt dagegen im Jahr 2000 den "Prix medicis". Im Augenblick schreibt er Drehbücher und arbeitet mit Jazzmusikern an Librettos für Musicals und Opern zusammen.

Von Johannes Kaiser | 08.11.2007
    " Mit 23 habe ich meinen ersten Roman geschrieben. Der war unlesbar und zur Veröffentlichung ungeeignet, aber über einige Leute landete er dennoch auf dem Tisch des Verlegers der Edition Minuit. Er las es und rief mich an. Ich war fasziniert, dass mich dieser alte Mann anrief. Wir trafen uns und er unternahm alles, um mich zu entmutigen, weiter zu schreiben. Ich glaube, das tat er immer, wenn er einen viel versprechenden potentiellen Schriftsteller traf. Ich war so sauer, dass ich nur wenige Monate später einen neuen Text fertig hatte, ihn anrief und sagte: Erinnern Sie sich noch an mich? Ich habe ein neues Buch für Sie. Er las es an einem einzigen Tag durch. Am nächsten Tag um 17.00 Uhr saß ich in seinem Büro und unterschrieb den Vertrag."

    Dem Debüt des französischen Schriftstellers Yann Apperry war keine allzu große Resonanz beschieden. Auch sein nächster Roman fand nur einige hundert Leser. Und dann kam völlig unerwartet der Durchbruch mit "Diabolus in musica", dem jetzt auf Deutsch herausgekommenen Roman "Blues Notes". Als das Buch 2000 den renommierten französischen Literaturpreis "Prix medicis" erhielt, brach ein solcher Medienrummel aus, dass der damals 28-Jährige schockiert nach Hawaii floh. Inzwischen ist er etwas gelassener geworden, kann über sich und die Stärken und Schwächen seines Romans ganz entspannt reden.

    Im Mittelpunkt der Geschichte steht Moe, Sohn des Otello Sanguine, eines italienischen Gutsbesitzers, der in die USA emigriert war, aber nach Italien zurückgekommen ist, nachdem in Chicago in derselben Nacht sein Vater an Altersschwäche und seine Frau im Kindbett starben. Er hat ein weitläufiges Landgut geerbt und einen Sohn, mit dem er wenig anzufangen weiß. Der Verlust seiner Frau schmerzt ihn allerdings weniger als die zurückgelassene jüdische Geliebte. Er ergibt sich dem Alkohol und wird zum prügelnden Vater, vor dem sich das Kind zu verstecken lernt. Dabei hört es eines Tages aus der kleinen Kapelle, die auf einem Hügel des Landgutes steht, Orgelspiel aufbrausen. Moe ist fasziniert und der Organist Paolo Durante erkennt rasch das ungewöhnliche musikalische Talent des Jungen, nimmt ihn unter seine Fittiche, bildet ihn aus. Als Moe kurz darauf im Radio auch noch den Jazz entdeckt, ist es um ihn geschehen. Die Musik wird ihm zum Zufluchtsort, zur Erlösung, zum Lebensinhalt und zur Vision. In Moe spiegelt sich auch Yann Apperrys Liebe zur Musik wieder:

    "Einer, der mich damals inspirierte, war Duke Ellington, wirklich. Für mich war er ein Guru - allein schon durch die Art und Weise, wie er gearbeitet hatte, der Klang seiner Stimme, wie er Arrangements und Kompositionen geschaffen hatte. Man hatte den Eindruck von etwas ganz Alltäglichen, von Nonchalance und gleichzeitig war der Mann ein absolutes Genie. Der Roman ist in diesem Geist geschrieben, ohne tief in Recherchen einzusteigen, einfach aus dem Geist des Augenblicks heraus. Was brauche ich jetzt: Dies hört sich an, als ob es ein lustiges Instrument ist, der Name klingt hübsch, also nimm es mit ins Buch auf, tue so, als wenn wir alles darüber wüssten."

    Yann Apperry erwarb sich seine Musikkenntnissen damals in Rom, als er bei einem italienischen Freund, dem Jazztrompeter Massimo Nunzio wohnte, dessen schreckliche Kindheit ihm als Romanvorbild diente. Der Komponist und Musiker scheint ihm viel beigebracht zu haben, denn im Buch stoßen wir auf einen jungen Pianisten, der in Musiktheorie durchaus bewandert ist. Eine umso bessere Vorstellung hat er vom perfekten Musikstück, der Komposition, die alles ausrückt und umfasst. Er verzweifelt geradezu, weil sie ihm lange nicht gelingen will:

    "Die Figur steht kurz vor einer Psychose, kurz davor, verrückt zu werden. Das nimmt die Form an, dass er von musikalischen Mantras besessen ist und eines davon hält ihn gefangen. Ich kann das nicht richtig erklären außer, dass es eine fundamentale Verbindung zwischen Musik und Wiederholung gibt, der Wiederholung einer Sequenz. Was passiert, wenn ein Thema oder ein Cluster, eine bestimmte Notenstruktur einem nicht mehr aus dem Kopf geht? Und dann führte mich Massimo in dieses Konzept "Diabolus in musica" ein, wie der ursprüngliche Titel des Buches heißt. Das ist ein Intervall, das angeblich im Mittelalter als teuflisch angesehen wurde. Interessant daran ist, dass dies in Wahrheit eine Erfindung ist. Diabolus in musica hat als Begriff im Mittelalter niemals existiert. Das ist von einem Musikologen im späten 19. Jahrhundert erfunden worden. Es ist also eine literarische Erfindung."
    Yann Apperry dekliniert in seinem Roman diese Idee des Teufels, der in der Musik steckt, bis in tödliche Konsequenzen durch. Die Musik, die Moe schließlich komponiert, wird für seine Freunde und Geliebten zur tödlichen Bedrohung, zur Todesfuge, auch wenn der Schriftsteller das nur andeutet, nicht direkt ausspricht. Doch sie kommt auch einer Befreiung gleich:

    "Auch wenn es eine todbringende Musik ist, so wirkt sie am Ende doch eher tödlich für das, was ihn an seine Erinnerung, an all diese Figuren aus seiner Vergangenheit bindet, denn das hat ihn tatsächlich vom Komponieren abgehalten. In dem Sinne ist diese Geschichte eines Musikers für mich nicht die eines Schöpfers. Er ist so blockiert von seinen Sorgen und Neurosen oder wie auch immer man das bezeichnen möchte, dass er kein Schöpfer ist. Der Protagonist versucht einen Kompromiss zwischen der Freiheit der Improvisation - wer weiß schon was das wirklich ist - und den strengen Formen klassischer zeitgenössischer Musik zu finden. Darüber verliert er den Verstand."

    Dass Moe, der uns seine Geschichte im Rückblick erzählt, mit seiner Vergangenheit hadert, liegt auch daran, dass er sie nicht kennt. Er spürt in sich das widerstreitende Erbe der zwei Kulturen seiner Herkunft, der amerikanischen und der italienischen, verkörpert auch in seiner Liebe zum Jazz und zur Klassik.

    Der Protagonist trägt autobiographische Züge, denn auch Yann Apperry war damals auf der Suche nach seiner Identität. Der Vater ein Bretone, die Mutter eine Kalifornierin, fühlten sich fremd in Paris. Ihr Sohn wuchs mit englisch auf, bevor er französisch lernte. Bis heute fühlt er sich nirgends richtig zuhause. Als er den Roman schrieb, quälte ihn das. Vielleicht erklärt das auch ein Stück weit jene Zerrissenheit, die den Roman kennzeichnet.

    "Während ich ihn schrieb, hat er mir eine Menge Ärger gemacht, denn es gab unterschiedliche Stile in ihm. Er hat keine Homogenität, wie ich sie ihm gerne gegeben hätte. Dafür war ich nicht reif genug. Es gibt also Passagen, von denen ich denke, dass sie gut sind und andere, für die das weniger zutrifft. Es ist ein großer Schmelztiegel."

    Das stimmt in der Tat. Doch bei aller Selbstkritik - der Roman nimmt gefangen, weil er den Leser mitnimmt auf eine wenn auch dramatische, so doch in sich stimmige Reise zu sich selbst. Seine Selbstbezogenheit lässt ihn seine beiden großen Lieben verlieren, verhindert, dass er sich mit seinem Vater aussöhnt und dass er eine selbstlose, großzügige Freundschaft nicht rechtzeitig genug zu schätzen weiß. Ein klassisches literarisches Thema: die Verzweiflung, die einen erfasst, wenn man im Nachhinein begreift, was man verloren hat, wie leichtfertig man einen Menschen hat gehen lassen, wie blind man eine große Liebe verschenkt hat. Moe erzählt davon in der heiteren Melancholie des unwiderruflich Vergangenen, mit stillem Bedauern, aber auch mit dem feinen Gespür für absurde Situationen, komisch-schräge Lebensläufe und Charaktere. Ein heiterer Roman über eine schicksalhafte Musikleidenschaft.

    Yann Apperry: "Blue Notes", Aufbau Verlag, Berlin
    Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger