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Von Onegin bis Sorokin

Für alle, die die russische Literatur lieben und ihr Wissen darüber vertiefen möchten, ist gerade eine Orientierungshilfe erschienen: Der in der Reihe "Russische Literatur in Einzelinterpretationen" von Bodo Zelinsky herausgegebene Band über den russischen Roman. In 18 ausführlichen Analysen werden die bedeutendsten Romane der russischen Literatur in ihrer chronologischen Reihenfolge vorgestellt.

Von Karla Hielscher | 25.10.2007
    Mit den großen Romanen Tolstojs und Dostojewskijs setzte sich die russische Literatur um die Mitte des 19. Jahrhunderts an die Spitze der Entwicklung der Weltliteratur und hat diese seitdem wesentlich mitgeprägt. Der liebenswürdige Faulenzer Oblomow, Gogols Seelenaufkäufer Tschitschikow, der idealistische Mörder Raskolnikow, die Brüder Karamasow, Anna Karenina, Doktor Schiwagos Geliebte Lara, Bulgakows Meister und Margarita und die vielen anderen bewegenden Romangestalten verkörpern die russische Literatur, die für viele begeisterte Leser einen einzigartigen Zugang zur Welt und dem unauslotbaren Kosmos des Menschen darstellt. Es sind die Romanwerke des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihrer Tiefe und Weltweisheit, die sich auch heute - wo die russische Gegenwartsliteratur kaum Substanzielles zu bieten hat - als unsterblich erweisen.

    Gerade in den letzten Jahren finden auf unserem Buchmarkt wiederum die Neuübersetzungen der fünf großen Romane Dostojewskijs durch Swetlana Geier, die Ausgabe der Urfassung von Tolstojs "Krieg und Frieden" oder die Entdeckungen wenig bekannter Werke der russischen Klassik im Schweizer Dörlemann Verlag mehr Beachtung als die Krimis und postmodernen Trivialtexte der zeitgenössischen russischen Buchproduktion.

    Für alle, die die russische Literatur lieben und ihr Wissen darüber vertiefen möchten, ist gerade eine empfehlenswerte Orientierungshilfe erschienen: der in der Reihe "Russische Literatur in Einzelinterpretationen" von Bodo Zelinsky herausgegebene Band über den russischen Roman. In 18 ausführlichen Analysen werden die bedeutendsten Romane der russischen Literatur in ihrer chronologischen Reihenfolge vorgestellt: von Puschkins "Jewgenij Onegin", der für den eigenständigen russischen Roman den Grund legte, bis hin zu Wladimir Sorokins Werk mit dem Titel "Roman" von 1995, das ein "Buch über den Tod des Romans" sein will.

    Der umfangreiche Einführungsessay des Herausgebers Bodo Zelinsky gibt einen Überblick über 200 Jahre Entwicklung des Romans in Russland von seinen zunächst ganz durch westliche Einflüsse geprägten Anfängen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die große Zeit des psychologischen Realismus, den Aufbruch in die Moderne, die Sowjetzeit bis ins Heute.

    1979 gab es den Titel in der vierteiligen Reihe über russische Lyrik, Drama, Novelle und Roman, die gerade neu aufgelegt wird, schon einmal. Aber natürlich hat sich in dem viertel Jahrhundert danach die Sicht beträchtlich verändert, und das nicht nur, weil der Zusammenbruch des Kommunismus zu einer radikalen Umwertung der Literatur der Sowjetzeit führte. Und so ist denn auch die nun vorliegende Ausgabe nicht etwa eine zweite Auflage, sondern ein ganz neues Buch geworden.

    Allein schon die Auswahl spiegelt diesen Wechsel. Vor allem ist das Textkorpus erweitert worden: Aufgenommen wurden die - inzwischen zu Klassikern gewordenen - Kultbücher der Untergrundliteratur der Breschnjew-Zeit wie Wenedikt Jerofejews Reise in die unergründlichen Tiefen Russlands "Moskau-Petuschki", Sascha Sokolows bezauberndes, tragisches und rührendes Buch "Die Schule der Dummen" und Andrej Bitows "Puschkinhaus"; verzichtet hat man etwa auf Maxim Gorkijs als Urtext des sozialistischen Realismus geltenden Roman "Die Mutter", und mit Vladimir Nabokovs "Die Gabe" wurde der bedeutendste Autor der Emigration einbezogen.

    Aber auch die gesamte klassische und vorrevolutionäre Literatur ist neu bearbeitet. Bis auf drei Artikel sind alle von Slawisten der nächsten Generation verfasst und auch bei der Auswahl ist manches verändert worden. Sehr bewusst wurden von Tolstoj und Dostojewskij - um der überragenden Bedeutung dieser Schriftsteller gerecht zu werden - je zwei Romane aufgenommen: "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina", sowie "Schuld und Sühne" und "Die Brüder Karamasow".

    Aber natürlich wird man über die Auswahl eines solchen Sammelbandes immer streiten können, zum Beispiel darüber, warum Lermontow oder Leskow nun fehlen. Und auch die im Ganzen hohe Qualität der Beiträge wird natürlich divergierend beurteilt werden.

    Die Interpretationsansätze sind ganz unterschiedlich. Da stehen überzeugende Strukturanalysen der Texte neben philosophischen Zugängen, biographisch geistesgeschichtlich bestimmte Ansätze neben eher wirkungsgeschichtlichen; da gibt es Artikel kompilatorischen Charakters neben solchen, in die hochinteressante eigene Forschungsergebnisse eingegangen sind. Aus der Fülle nur zwei Beispiele:

    Die genaue Textanalyse der spielerischen, durch und durch ironischen Struktur von Puschkins kunstvollem "Roman in Versen" "Evgenij Onegin" macht überzeugend klar, dass durch Tschaikowskij - wie die Autorin betont - zwar "die Oper um ein glanzvolles Opus bereichert", die Weltliteratur aber um Puschkins Werk "betrogen wurde." Und die beiden Analysen der Romane Dostojewskijs bieten - wie schon das Festhalten am Titel der deutschen Übersetzung "Schuld und Sühne" gegenüber dem inzwischen durch Swetlana Geier eingebürgerten neutralen und wortgenauen "Verbrechen und Strafe" signalisiert - eine dezidiert christlich religiöse Deutung. Die in sich konzise und schlüssige Interpretation, die jedoch apodiktisch alle anderen Möglichkeiten als "unrichtig" ausschließt, wird - auch wenn sie vielleicht sogar die "Absicht" Dostojewskijs ziemlich genau trifft - der Komplexität und Vielschichtigkeit seiner gewaltigen Wortkunstwerke kaum gerecht. Lesenswert aber sind alle Interpretationen!

    Für welchen Adressaten ist ein solches Werk bestimmt? Schon der Gebrauch der wissenschaftlichen Umschrift, die Einbeziehung der Originaltitel, die langen Listen von Sekundärliteratur sowie die strenge literaturwissenschaftliche Terminologie einiger Artikel zielen auf den Studenten der Literaturwissenschaft. Der normale Literaturliebhaber sollte sich davon aber nicht abschrecken lassen und das reiche Angebot nutzen, um die eigenen Leseerfahrungen zu vertiefen.

    Der Band macht noch einmal eindrucksvoll die Besonderheit und Einzigartigkeit der russischen Literatur deutlich: ihre durchgehende Intertextualität. Gerade weil es einen ganz festen Kanon von Grundtexten gibt, die jeder gebildete Russe schon aus der Schule kennt und auf die immer wieder Bezug genommen wird, entsteht durch die Geschichte der Literatur hindurch ein ungeheuer komplexes Geflecht von Beziehungen, Anspielungen, Motivketten, man denke etwa nur an die Gestalt des "überflüssigen Menschen" oder den Petersburg-Mythos. Dadurch verbindet sich die russische Literatur der letzten zweihundert Jahre zu einem einzigen zusammengehörenden, hoch bedeutungsgeladenen Literaturkosmos, in dem die Werke in einen spannungsgeladenen Dialog miteinander treten. Davon können dann auch noch die postmodernen Dekonstruktivisten zehren, wie es auf ganz unterschiedliche Weise die Romane Andrej Bitows und Wladimir Sorokins beweisen.

    Aber diese Epoche der überragenden gesellschaftlichen Bedeutung der Literatur ist nun wohl auch in Russland zu Ende gegangen. Der Band "Der russische Roman" fasst ihre künstlerischen Höhepunkte für den deutschen Leser noch einmal beeindruckend zusammen.