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Von Rauchschwalben, Kohlmeisen und riesigen Welsen

Umwelt. - 19 Jahre ist der GAU von Tschernobyl jetzt her, der größte anzunehmende Unfall. Der Sarkophag um den havarierten Reaktor ist gesichert - und in der Sperrzone wird viel geforscht. Unter anderem versuchen Biologen den Folgen der Strahlung für die Ökosysteme und Tiere auf die Spur zu kommen.

Von Dagmar Röhrlich | 10.08.2005
    Ein paar Kilometer vom havarierten Kernkraftwerk Tschernobyl entfernt wächst der Wald wie überall. Auf den ersten Blick wirkt dieser Wald wie ein Paradies für Jäger, denn es gibt sehr viel Wild. Schließlich ist seit 19 Jahren nicht mehr gejagt worden - jedenfalls offiziell. Aber die Sperrzone um Tschernobyl ist kein Garten Eden. Tim Mousseau von der University of South Carolina.

    " Wir haben für mehrere Vogelarten untersucht, wie sie auf die radioaktive Belastung reagieren. Dabei haben wir uns vor allem auf die Rauchschwalbe und die Kohlmeise konzentriert. Beide Vögel sind zwar etwa gleich groß, haben aber sehr unterschiedliche Lebensstile. Die Rauchschwalbe zieht in jedem Jahr Tausende von Kilometern zwischen Europa und Zentral- oder Südafrika hin und her, während die Kohlmeise recht standorttreu ist. Das Erstaunliche ist, dass die Kohlmeise sehr gut mit der Strahlenbelastung fertig wird, während die Rauchschwalbe extrem empfindlich reagiert."

    Vor dem Unfall waren Rauchschwalben sehr häufige Sommergäste in Tschernobyl. Das beweisen die vielen verlassenen Nester. Jetzt kommen nur noch sehr wenige.

    " Die Rauchschwalben von Tschernobyl haben eine drastisch kürzere Lebenserwartung als ihre Artgenossen anderswo. Ihre Überlebensrate nach einem Jahr beträgt nur zehn bis 15 Prozent, normal wären 35 bis 45 Prozent."

    Auch ihre Fortpflanzungsrate ist deutlich geringer, die Zahl der Missbildungen und Tumoren dafür ebenso deutlich höher.

    " Es ist unwahrscheinlich, dass das direkte Konsequenzen der Bestrahlung von außen sind, dafür ist das Strahlungsniveau zu niedrig. Vielmehr nehmen die Vögel mit Nahrung, Wasser und dem eingeatmeten Staub Radionuklide auf, die dann in den Körperzellen selbst wirken. Dabei finden wir eine sehr gute Korrelation zwischen den Schäden bei den Schwalben einerseits und dem Gehalt von Antioxidantien wie Vitamin A und E in ihrem Blut und in der Leber andererseits."

    Dass Antioxidantien einen gewissen Schutz vor den Auswirkungen der Strahlung bieten, ist aus Untersuchungen beim Menschen bekannt. Aber die enge Kopplung zwischen Strahlungsniveau, den Schäden und dem Gehalt an Schutzstoffen im Blut überrascht – und erklärt die unterschiedliche Empfindlichkeit von Rauchschwalbe und Kohlmeise:

    "Wir glauben, dass folgendes dahinter steckt: Die Rauchschwalben ziehen im Frühjahr aus Afrika herauf und kommen erschöpft an. Weil sie auf ihrem Flug die Antioxidantien weitgehend aufgebraucht haben, messen wir dann nur noch sehr geringe Gehalte in ihrem Blut. In Tschernobyl beginnen sie sofort mit dem aufreibenden Brutgeschäft, bauen nicht erst einen neuen Schutz auf. Die Schwalben leben also mit einem sehr hohen Grad an Stress. Anders die Kohlmeisen. Die sind standorttreu, führen ein "geruhsames" Leben und ihre Schutzmechanismen funktionieren deshalb. Das ist wohl der Grund, warum die Meisen klar kommen und es ihnen gut zu gehen scheint."

    Nur den Roten Wald meiden sie. Das ist ein Waldstück direkt hinter dem Havaristen, das sich 1986 durch die ungeheuer hohe Radioaktivität binnen kürzester Zeit rot verfärbt hatte und abgestorben war. Der Boden dort ist immer noch "heiß": Giftiges Plutonium liegt dort, Uran, ebenso Schwermetalle und Radionuklide wie Strontium 90 und Cäsium 137. Während die Meisen unbeeindruckt scheinen, hat das fatale Schadstoffgemisch für die nachwachsenden Bäume im Roten Wald Folgen. James Morris von der University of South Carolina in Columbia:

    " Der Wald erholt sich jetzt und die neuen Bäume sind bis zu 18, 19 Jahre alt. Allerdings können sie nicht mehr senkrecht wachsen. Normalerweise erkennen Pflanzen aufgrund chemischer Verbindungen, die sie in den Wachstumsspitzen produzieren, wo oben und wo unten ist. Die Bäume im Roten Wald haben das "vergessen". Das liegt nicht an Mutationen, also genetischen Veränderungen. Vielmehr stören die Radionuklide und Schwermetalle die chemischen Signalwege. Die Bäume wissen einfach nicht mehr, wie sie wachsen sollen."

    Setzt man sie in saubere Erde, erhalten sie sofort die Orientierung zurück und wachsen zu normalen Bäumen. Die Selektion, fügt der Biologe hinzu, lässt in Tschernobyl rigoros nur die Widerstandsfähigsten überleben. Das gilt für die Vögel, die Bäume, aber auch für die riesigen Welse im ehemaligen Kühlwasserbecken des Reaktors. In diesen Becken ist das Strahlungsniveau sehr hoch. Die Jungfische reagieren empfindlich darauf: Es gibt viele Missbildungen. Diese Tiere sterben dann schnell. Den Überlebenden jedoch macht die Strahlung nichts - sie wachsen unbeeindruckt heran und werden von den Arbeitern mit ganzen Brotlaiben gefüttert.