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Von Regeln, Ideologien und Spielmechaniken
Games als Propaganda-Maschinen?

Wenn Gamedesigner und Programmierer ein Spiel entwickeln, programmieren sie grundsätzlich auch ihr eigenes Verständnis der Welt mit hinein. Und das zeigt sich nicht nur in Bild und Sprache, sondern vor allem in der Spielmechanik – und hier entwickeln Games eine ganz eigene Form der Rhetorik.

Von Tim Baumann | 03.01.2020
Der Spieleklassiker "Tetris"
In der Mechanik von Spielen liegt immer auch etwas Politisches (2019 Nintendo)
Unbarmherzig fallen genau die falschen Steine, während die Spieler voller Ungeduld auf ihn warten – den einen, den einzigen, den heiligen Langen, um endlich wieder vier Reihen auf einmal auflösen zu können. "Tetris"! Für unzählige Spieler weltweit ist der Klassiker mit seinem zeitlosen Design und der Ohrwurm-Musik nach wie vor eines der besten Spiele, die je entwickelt wurden.
Dass das Spiel auch eine politische Dimension haben könnte, erscheint aufgrund der abstrakten Bildsprache und der fehlenden Erzählebene zunächst völlig absurd. Entsprechend viel Spott erntete die Spieleforscherin Janet Murray auch für ihre politische Deutung von "Tetris", wie Dr. Hanns Christian Schmidt vom Cologne Game Lab erklärt:
"Nun, es gibt ja diese ganz berühmte Interpretation von ‚Tetris‘, dass ‚Tetris‘ im Grunde genommen den Workload eines westlichen Schreibtischarbeiters simuliert, auf den immer wieder mit jedem Bauklotz neue Aufgaben hereinprasseln – und man muss sie immer wieder clearen, also man muss diese Steine auflösen und dann kommen immer wieder neue Steine rein und neue Steine."
Politik in "Tetris"?
Sicher, mit ihrer Narration vom westlichen Schreibtischarbeiter hat sich die Spieleforscherin Janet Murray in den 90er-Jahren weit aus dem Fenster gelehnt, insbesondere wenn man bedenkt, dass ‚Tetris‘ in der Sowjetunion entwickelt wurde. Ganz wegwischen lässt sich ihre Argumentation aber nicht:
"Natürlich, man kann vieles in vieles reinlesen, aber die Mechanik des Abarbeitens, des Lösens, des unter Zeitdruck Agierens, das lässt sich auch so lesen, wenn man das möchte."
Und das hat vor allem einen gewichtigen Grund: Games sind als Kulturprodukt per se politisch. Während das abstrakt designte ‚Tetris‘ aber eine Vielzahl von Deutungen eröffnet, enthalten Spiele, die ihre Mechaniken mit konkreten Erzählungen aufladen, eindeutigere politische Botschaften.
Vorstellungen der Entwickler
Das zeigt sich zum Beispiel im Spiel "Democracy 3" - hier werden die Spieler zum Präsidenten einer Nation und müssen über Gesetzesänderungen versuchen, politische Krisen wie Massenarbeitslosigkeit oder Umweltverschmutzung zu überwinden.
Unter der offensichtlich politischen Darstellungsebene liegen hier aber auch in der Mechanik, also in den programmierten Zusammenhängen zwischen Spielentscheidung und -konsequenz, politische Ideologien verborgen: So ist die Todesstrafe in "Democracy 3" beispielsweise ein effektives Mittel, um die Kriminalitätsrate zu senken. Eine Logik, die im Spielsystem einprogrammiert ist, weil die Spieleentwickler diese Kausalität, ob sie sie gutheißen oder nicht, in ihren Köpfen hatten - die in der realen Welt aber durch vielfache Studien ausdrücklich widerlegt werden konnte. Innerhalb des Systems "Democracy 3" erleben die Spieler aber nun, dass die Todesstrafe ein funktionales Mittel gegen Kriminalität ist – und das ist problematisch.
Die Rhetorik von Games
Denn einmal im Spiel implementiert, können diese Parameter auch nicht mehr diskutiert werden. Ein Computerspiel ist immer ein festes System aus Regeln und klar definierten Prozessen, die einer bestimmten Mechanik folgen. Gerade durch diese Form eignen sich Computerspiele besonders gut dafür, Prozesse aus der realen Welt nachzustellen und anschaulich zu machen, so der Spieleforscher Ian Bogost in seinem Aufsatz "Die Rhetorik von Videospielen":
"Videospiele können aussagen über die Welt treffen. Aber wenn sie das tun, tun sie es weniger durch Sprache oder Text, nicht einmal mit Bildern – Videospiele argumentieren durch Prozesse."
Diese für Computerspiele einzigartige Rhetorik nennt Ian Bogost "Prozeduralität" - Hanns Christian Schmidt erklärt:
"Prozeduralität bezeichnet eigentlich die Simulation von bestimmten Abläufen, von bestimmten Prozessen. Und das ist eben etwas, was Spiele ganz besonders gut können, indem sie Spielmechaniken einsetzen."
Diese Spielmechaniken sind das, was die Spieler in Gang setzen, wenn sie Knöpfe drücken. Wenn sie also zum Beispiel in "Democracy 3" einen Regler verschieben, erhöhen wir die Mehrwertsteuer. Allerdings führt das im Spiel nicht nur dazu, dass die Staatskasse klingelt, sondern auch zu wachsender Armut und Unzufriedenheit bei bestimmten Wählergruppen. Denn:
"Indem ein Prozess angestoßen wird, wird meistens eben auch ein anderer Prozess angestoßen. Und so schließt sich eben eine Art Regelkreislauf, so eine Art System wird dadurch in Gang gesetzt", sagt Schmidt.
Spiele durchschauen lernen
Sind Games also schon durch ihre Form pure Propaganda-Maschinen?
"Man kann diesem Ansatz von Ian Bogost durchaus vorwerfen, dass da drinsteckt, dass auf diese Art und Weise politische Ansichten eigentlich nur reproduziert werden und ein spielmechanisches System nur darauf ausgerichtet wird, eine politische Überzeugung an die Spieler zu adressieren."
Damit werde man Ian Bogosts Modell aber nicht gerecht – entscheidend ist nämlich, dass die Spieler innerhalb der vom Spiel gesetzten Parameter und Modelle über Entscheidungsfreiheit verfügen – zumindest in guten Spielen. Die Grenzen dieser digitalen Spielräume können sie durch das Spielen selbst erkunden – damit aus Games aber eben keine Propaganda-Maschinen werden, ist es auch nötig, sie kritisch analysieren zu lernen, wie Ian Bogost schreibt:
"Die Art von Technologiekompetenz, die prozedurale Rhetorik bietet, wird für Kinder und Erwachsene gleichermaßen immer wichtiger. Da sich unsere kulturelle Aufmerksamkeit von linearen Medien wie Büchern und Filmen hin zu prozeduraler Software und Spielen verschiebt, müssen wir bessere Kritiker dieser neuen Medien werden."
Und das gilt gleichermaßen für Gamer, Gamedesigner und Feuilletonisten.