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Von Schnipseln und Genen

Genetik. - Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts gilt als Meilenstein in der biologischen Forschung. Doch erst wenn man versteht, wie dieses Orchester an Funktionen dirigiert wird, lassen sich auch Heilmethoden entwickeln. Dabei hilft die RNS-Interferenz.

Von Martin Winkelheide | 02.10.2006
    Am Anfang stand das Petunienrätsel, das war um 1990. Pflanzenforscher manipulierten rot blühende Petunien. Sie wollten, dass die Petunien eine noch intensivere Blütenfarbe produzieren. Dazu führten sie ein zusätzliches Gen in die Pflanzen ein, das verantwortlich ist für den roten Farbstoff. Das Ergebnis des Experiments: die Petunienpflanzen verloren jegliche Farbe. Sie blühten strahlend weiß. Warum hatten die Petunien die Farbe verloren? Ähnliche Rätsel stellten sich Craig Mello und Andrew Fire, als sie mit dem Fadenwurm C.elegans experimentierten. Das Experiment lieferte immer ein scheinbar falsches Ergebnis, erinnert sich Andrew Fire:

    "Es war ein langer Weg von diesem Experiment, das wir überhaupt nicht verstanden haben und das sich mit keinem gängigen Modell erklären ließ, bis hin zu dem Punkt, an dem wir so ungefähr sagen konnten, was da passiert."

    Im Sommer 1997 telefonierte Andrew Fire ausgiebig mit seinem Kollegen Craig Mello an der Universitätsklinik von Massachusetts. Nach drei Monaten war klar, sie hatten es mit einem grundlegenden Mechanismus der Gen-Regulation zu tun. Und es ist ein Mechanismus, so Craig Mello, den die Natur schon früh erfunden hat: die RNS-Interferenz.

    "Heute wissen wir, es handelt sich um einen Mechanismus, der mindestens eine Milliarde Jahre alt ist. Schon der gemeinsame Vorfahre der heutigen Pilze, Pflanzen und Tiere besaß sie."

    Damit ein Gen umgesetzt wird in ein Eiweiß, muss die genetische Information - die DNS - zunächst kopiert werden in RNS. Diese Boten-RNS wandert in die Eiweißfabrik der Zelle, dort wird das entsprechende Eiweiß hergestellt. Genregulation, so dachten bis dahin alle, spielt sich allein auf der Ebene der genetischen Information ab, also wird ein Gen abgelesen und kopiert oder nicht - das schien die entscheidende Frage zu sein. Fire und Mello entdeckten aber mit der RNS-Interferenz: die Umsetzung genetischer Informationen in ein Eiweiß kann auch noch auf der Ebene der Boten-RNS gestoppt werden mit Hilfe kleiner doppelsträngiger Schnipselchen - der so genannten Mikro-RNS. Heftet sich ein kleines RNS-Schnipsel an die Boten-RNS, wird diese blockiert oder sie wandert direkt in den Zell-Shredder und wird dort zerstört. Die Folge: das Eiweiß wird nicht hergestellt. Das Gen wird - bildlich gesprochen - ausgeschaltet. Den deutschen Gen-Forscher Thomas Tuschl von der Rockefeller- Universität in New York überrascht, dass der Mechanismus so lange unentdeckt blieb:

    "Also es ist ein grundlegender Mechanismus der Genregulation. Den hätte man schon längst vor 20 Jahren entdecken können mit den damals schon verfügbaren Methoden. Niemand hat gedacht, dass es so einen Mechanismus gibt, das ging über die Vorstellung der meisten Biologen einfach hinaus und man hat überhaupt nicht daran gedacht, dass so etwas überhaupt existieren könnte."

    In der Natur dient die RNS-Interferenz einfachen Organismen zur Abwehr von Krankheitserregern, vor allem von Viren: Viren sind Zellpiraten, sie dringen in Zellen ein. Wenn es ihnen gelingt, ihre Erbinformation in die Zellen einzuschleusen, können sie sich vermehren. Mit Hilfe der RNS-Interferenz können einfache Organismen sich gegen die Viren wehren. Sie machen die virale Erbinformation unbrauchbar – die Viren können sich nicht vermehren. Forscher entwickeln bereits im Labor RNS-Schnipsel, mit denen sich nach diesem Vorbild Virusinfektionen gezielt bekämpfen lassen. Für Craig Mello ist die RNS-Interferenz aber vor allem ein wichtiges Forschungsinstrument:

    "Mit der RNS-Interferenz haben wir ein Werkzeug, um die Funktion von Genen genau zu studieren. Denn wir können einzelne Gene gezielt ausschalten. Auch Gene in kranken Zellen, die überaktiv sind, zum Beispiel in Tumorzellen."

    Inzwischen existiert für beinah jedes der 30.000 menschlichen Gene das passende RNS-Schnipselchen, mit dem sich das Gen inaktivieren lässt.