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Von Schrecksen und Eisspinn

Hirnhusten, Lebermigräne und Darmschnupfen bedrohen die Bewohner von Zamonien in dem neuen Buch von Walter Moers. "Der Schrecksenmeister" ist nach Erzählungen wie "Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär" und "Die Stadt der Träumenden Bücher" das fünfte Fantasiemärchen vom Kontinent Zamonien.

Von Martin Ebel | 04.11.2007
    Walter Moers ist ein Phänomen, ja, ein Unikum in der Welt der Literatur. Er hat es geschafft, gleich drei Altersgruppen in Fans zu verwandeln: die Kleinen, die Größeren und die ganz Großen. Für die Kleinen gibt es sonntags morgens die "Sendung mit der Maus", an deren Ende der Käpt’n Blaubär erscheint, ein gemütlicher Zeichentrickseebär mit Schiffermütze und Kulleraugen, der seinen drei Enkeln ein haarsträubendes Abenteuer nach dem anderen aufbindet. Der blaue Lügenbold hat die Titanic gesteuert und den Nordpol entdeckt, das U-Boot erfunden sowie auch Fischstäbchen und Pommes Frites, und seinen großen Konkurrenten aus dem 18. Jahrhundert, den Baron von Münchhausen, hat er in einem denkwürdigen Lügenduell so klar geschlagen, dass sich die sprichwörtlichen Balken nicht nur bogen, sondern mittendurch brachen.

    Wer den Kinderschuhen entwachsen ist, kann sich am Comiczeichner Walter Moers delektieren. Der hat so anziehende Figuren geschaffen wie das Kleine Arschloch und den Alten Sack, aber auch - politisch besonders inkorrekt - Adolf, die Nazisau. Alle diese Comics sind selbstverständlich nicht jugendfrei und gerade deshalb bei der Jugend besonders beliebt und erfolgreich.

    Mit all dem ist ein Walter Moers noch nicht ausgelastet. Auch das erwachsene, das seriöse Publikum wollte erobert sein. Es wurde 1999 mit einem Roman überrascht, der einen weder erwachsenen noch seriösen Titel trug: "Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär". Der schnurrige Fernsehopa hatte eine erstaunliche Verwandlung durchgemacht. Ein noch jugendlicher Blaubär wird über 700 Seiten in einem fiktiven Kontinent namens Zamonien durch eine Folge von Abenteuern gejagt, so einfallsreich ausgedacht, dass dagegen ganze Abenteuerbibliotheken in Frieden vergilben können, in denen die alten Erzählmuster bloß mehr oder weniger gekonnt variiert werden - und nicht anderes tun sie alle, von den Abenteuerschwarten des Barock bis zur Fantasy unserer Tage. Was Moers erfunden hatte, das hatte es noch nie gegeben: Denkenden Treibsand und hausgroße Waldspinnenhexen, einen ewigen Tornado, dessen Bewohner nicht altern, weil im Innern ein "relatives Zeitvakuum" herrscht, magnetisches Quellwasser, das aufwärts fließt, und ein Dimensionsloch, auf dem man Abkürzungen durchs Weltall fliegen kann. Das alles wird rasant erzählt; Moers’ Stil kennt nur eine Richtung: geradeaus. Und aus dem, was er so an Einfällen links und rechts neben der Strecke liegen lässt, würden minderbegabten Autoren wiederum ganze Bücher herausquetschen. Seine Poetik lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen - Walter Moers hat ihn selbst formuliert, als Ratschlag an eine seiner Figuren, die eine Geschichte erzählen soll:

    "Lass einfach die langweiligen Sachen aus, erzähle nur die spannenden Teile."

    Mit dem "Blaubär" war des Autors Fantasie noch keineswegs erschöpft, denn in kurzen Abständen folgten weitere Erkundungen des Kontinents Zamonien: "Ensel und Krete", in dem zum ersten Mal der dichtende Dinosaurier Hildegunst von Mythenmetz auftrat, dann die "Wilde Reise durch die Nacht", ein erzählerischer Parforceritt durch 52 Bilder von Gustave Doré. Als nächstes "Rumo oder die Wunder im Dunklen", eine düstere Heldensaga voller Prüfungen und Gewalttätigkeiten, wieder 700 Seiten dick. Und schließlich "Die Stadt der träumenden Bücher", vielleicht Moers’ Meisterstück, in dem sich alles um ein einziges Thema dreht: die Leidenschaft für Bücher. Unter den vielen reizvollen Erfindungen, die die Bücherstadt Buchhaim bevölkern, und ihre Unterwelt, ragen die Buchlinge heraus, freundliche, einäugige Gnome, die Nahrung allein durch Lesen zu sich nehmen können. Moers hat sich einen Spaß daraus gemacht, ihnen die Namen von real existierenden Schriftstellern zu geben, deren Buchstaben er vorher ordentlich durchgeschüttelt hat. So trat neben einem Ojahnn Golgo van Fontheweg auch ein Gofid Letterkerl auf, niemand anders als - haben Sie es gemerkt? - Gottfried Keller. Dieser Gofid Letterkerl taucht im Moers’ neuem Roman wieder auf, er steht sogar auf dem Titelblatt:

    "Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers."

    Hübsch bescheiden, wie sich der Autor, der wahre Autor, da hinter gleich zwei Masken verbirgt. Und die neue Herausforderung: Moers legt sich enge erzählerische Fesseln an. "Der Schrecksenmeister" ist am Vorbild einer Kellerschen Novelle entlang geschrieben. "Spiegel das Kätzchen" stammt aus der Sammlung "Die Leute von Seldwyla", und erzählt im Ton eines Märchens, wie ein halbverhungertes Kätzchen einen Pakt mit Pineiss abschließt, dem Hexenmeister der Stadt. Für einige Monate, verspricht Pineiss, werde er das Kätzchen mit ausgesuchten kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnen, danach aber bekomme er dessen Wanst zur beliebigen Verwertung. Spiegel, dem Kätzchen, gelingt es aber, den Hexenmeister hereinzulegen. Der befindet sich am Ende unter der Fuchtel einer knochigen spitznasigen Begine, die eigentlich eine Hexe ist.

    "Entsetzt ließ Pineiss den Leuchter fallen und lehnte sich zitternd an die Wand. Er hing die Zunge heraus und sein Gesicht war so fahl und spitzig geworden wie das der Begine. Diese aber stand auf, näherte sich ihm und trieb ihn vor sich her in die Hochzeitskammer, wo sie mit höllischen Künsten ihn auf eine Folter spannte, wie noch kein Sterblicher erlebt."

    Das war Gottfried Keller, nicht Walter Moers, soviel Ehre soll dem Vorlagenlieferanten auch hier erwiesen werden. Moers erweist sie ihm, indem er den Rahmen nicht sprengt, ihn aber dermaßen ausfüllt, dekoriert, umrankt und umspinnt, parodiert und travestiert, kalauerisiert und eisspinnisiert, dass dem Leser Hören und Sehen vergeht und der Zürcher Ratsschreiber, könnte er das noch in seinem Grab, ins rasende Rotieren geriete. Eisspinnisiert? Ja, der betrogene Hexenmeister heißt bei Moers Eisspinn, und aus Spiegel wird Echo, also der akustische anstelle des optischen Spiegels. Zum Abheben ins Reich der zamonischen Fantastik braucht Moers keinen Motor und kein großes Sprungbrett; das Auswechseln oder Tilgen eines einzigen Buchstabens kann genügen. So ist Echo keine Katze, sondern eine Kratze - vom gemeinen Haustier ohne R unterscheidet sie sich durch ihre Seltenheit und dadurch, dass sie zwei Lebern besitzt und ein unendliches Gedächtnis: Alles, was sie jemals gehört hat, ist dort wortgetreu gespeichert, und dass sie alle Sprachen spricht, sogar Urschrecksisch, auch die aller Tiere, gehört einfach dazu. Echos Widerpart ist kein Hexen, sondern ein Schrecksenmeister, eine Furcht erregende Gestalt, die in einem verwunschenen Schloss hoch über der Stadt Sledwaya, vulgo Seldwyla, haust und deren Bewohnern mit Krankheiten aller Arten das Leben erschwert. Dazu gehören:

    "Hirnhusten und Lebermigräne, Magenmumps und Darmschnupfen, Ohrenbrausen und Nierenverzagen. Eine Zwergengrippe, die nur Personen unter einem Meter Körpergröße befiel. Geisterstundenkopfweh, das Schlag Mitternacht begann und Punkt ein Uhr verschwand, jeweils am ersten Donnerstag jedes Monats. Phantomzahnschmerzen, die ausschließlich Leute bekamen, die schon Gebisse trugen. Eine Stadt, in der man nicht lebte, sondern vegetierte. In der nicht geatmet wurde, sondern geröchelt. In der niemand lachte, sondern jeder nur jammerte."
    Eisspinn schließt den uns schon bekannten Pakt mit Echo: ein feines, aber kurzes Leben als Gourmet, bis zum nächsten Vollmond. Dann schneidet er der Kratze die Kehle durch. Kratzenfett ist die letzte Ingredienz, die Eisspinn braucht, um die "Prima Zateria" herzustellen, den Urstoff, aus dem neues Leben entsteht. Das erfahren die Kratze und die Leser erst nach und nach, wenn sie Echo in ihre neue Behausung folgen, in Eisspins Küche und Keller, wo ausgestopfte Dämonen die düsteren Gänge säumen und in einem siebenfach gesicherten Verlies die Fettkugeln lagern, die der Schrecksenmeister aus den bereits zur Strecke gebrachten und eingekochten Tieren gewonnen hat. Eisspin ist natürlich ein monströser Charakter, ein Zyniker und Techniker der Macht, bar jeden Mitgefühls, ein Genießer der Qual seiner Mitmenschen. Erfinderisch auch im kleinsten. So bedient er sich zur Beleuchtung keiner ordinärer Kerzen, sondern ganz besonderer Lichtquellen:

    "'Schmerzenskerzen', erläuterte Eisspin, der in einer großen Schüssel rührte, nicht ohne Stolz in der Stimme. 'Eine meiner nebensächlichen alchimistischen Kreationen. Sie entstehen, wenn man Kerzenwachs, ein Leidener Männlein und Weinbergschnecken vom Gargyllener Bolloggschädel auf kleiner Flamme ganz langsam einkocht. Ein paar alchimistische Ingredenzien spielen natürlich auch noch eine Rolle. Der Docht ist aus dem Rückgrat einer Blindschleiche und dem Nervensystem eines Ochsenfrosches geflochten. Diese Kerze empfindet den Schmerz ihres Abbrennens sehr intensiv und verbringt ihr ganzes Dasein in außerordentlicher Qual. Stell dir vor, dein Schweif stünde in Flammen, solange du lebst. Von dieser Art von Qual rede ich.'"

    Der Autor, der hier wieder sein eigener Illustrator ist, hat diese Qual auch zeichnerisch kongenial umgesetzt - was sich im Medium Radio eher schlecht wiedergeben lässt. Eisspin strebt also nach der Weltherrschaft, denn nichts anderes ist die Verfügungsgewalt über Leben und Tod, und Echo, dieses kleine hilflose Wesen, wird sie verhindern und die Welt retten, oder zumindest Sledwaya und seine ewig kränkelnden Bewohner. Das ist das Setting der James-Bond-Filme, und man hat Walter Moers auch schon als einen Bond des Stils bezeichnet: Umso gelassener im Ton, je wilder es zugeht und je aussichtsloser die Lage ist. Wie bei Bond und wie im Märchen gibt es Hilfstruppen auf beiden Seiten, verlässliche und solche, die die Seiten tauschen. Zu den verlässlichen gehört ein einäugiger Uhu namens Fjodor F. Fjodor, der gern ein Intellektueller wäre und mit Fremdwörtern um sich wirft, die er zwar richtig gebraucht, aber konsequent falsch ausspricht. Er hasst Eisspin aus grundsätzlichen, also ideologischen Erwägungen:

    "Er ist ein Pasarit der Gesellschaft! Er hockt auf der Stadt wie ein Rufunkel, er inzifiert alles mit seiner Tynnarei. Solange Eisspin seine Daktitur aufrechterhält, kann es keine Revankoleszenz geben. Was wir brauchen, ist eine Relovution! Eine Relovution des Protelariats von Sledwaya!"

    Ganz hübsch albern, nicht wahr? Vollkommen humorlos sind dagegen die Ledermäuse, jawohl, Ledermäuse, unangenehme Gesellen, die als einzige von Eisspin nichts zu befürchten haben. Ihr Prinzip ist philosophisch die Umwertung aller Werte - schön ist hässlich, oben ist unten, gut ist böse - und handlungstechnisch die Unberechenbarkeit:

    "Niemand versteht die Ledermäuse - nicht einmal die Ledermäuse."

    Solche Geschöpfe sind natürlich bestens geeignet für unerwartete Umschläge des Geschehens. Dafür ist Moers nachgerade Spezialist; im Blaubärroman gab es einen Rettungsdrachen namens Deus X. Machina, und auch ohne dass dieser hier auftauchte, wird Echo gleich mehrfach im freien Fall aufgegabelt - schon weil sonst ja die Geschichte zuende wäre. Walter Moers Geschichten sind eben nicht wie die, die der Schrecksenmeister Eisspin erzählt und die allesamt ein brutales Ende nehmen: Wenn da ein mächtiger Geist aus der Flasche befreit wird, wirkt der nicht wie erwartet als Wohltäter seines Befreiers, sondern sperrt ihn seinerseits ein:

    "Mit diesen Worten verkorkte er die Flasche, und das Wurzmännchen musste bitterlich ersticken. Der Flaschenriese aber zerriss die Welt in kleine Stücke und verbrannte sie mit seinen Flammenhaaren, um dann seinen zerstörerischen Weg durch das Universum zu beginnen, und Sonne um Sonne mit seinem Todesatem zu verlöschen, bis es nur noch die eisige Kälte des Alls gab, in der er die Zeit zu Tode folterte."

    Auch als Erzähler ist Eisspin nicht gerade aufbauend. Aber auch in diesem alchimistischen Stalin Zamoniens schlägt - nein, nicht gerade ein Herz, aber etwas entfernt damit Verwandtes. Eisspin hat nämlich ein tragisches Schicksal hinter sich. Er ist der Jüngling, den Keller in der Binnengeschichte seiner Novelle, die eine Lügengeschichte ist, mit der Spiegel den Hexenmeister hereinlegt - der Jüngling also, der von einer reichen Erbin einem bösen, ja grausamen Test unterworfen wird, den er nicht durchschaut und deshalb nicht überlebt. Der Eisspin von Walter Moers hat also eine Vor-Existenz als verschmähter und fast zugrunde gegangener Liebhaber, worauf er sozusagen den Schalter umgelegt und zu dem Ausbund an Destruktivität geworden ist, als dem wir ihm begegnen.

    Echo erfährt von dieser tragischen Vorgeschichte und nutzt sie zu einem ausgeklügelten Rettungsplan, bei dem die letzte Schreckse von Sledwaya Hilfestellung leistet. In dieser Schreckse tritt sozusagen die organische, heilkräuterorientierte, die grüne Variante der Zauberkunst auf den Plan, muss aber letztlich gegen die alchimistischen Kräfte des Schrecksenmeisters unterliegen. Moers konfrontiert und parodiert hier harte Wissenschaft und weiche Ökologie. Eisspin manipuliert die atomare Ebene; wie aus Blei Gold gemacht wird, hat er längst herausgekriegt und verrät es auch dem Leser. Leider in unentzifferbaren Geheimzeichen. Die Schreckse Izanuela dagegen lebt in einem mobilen Baumhaus; das geht zum Finale mit den Nachbarhäusern, ja einer ganzen beweglichen und höchst aggressiven Straßenzeile auf das Schrecksenmeisterschloss zu und bereitet ihm einen Untergang, der sich gewaschen hat - auch hier fühlt sich der Leser an das obligate flammende Inferno der Bond-Widersacher-Schlupfwinkel erinnert.

    "Spiegel, das Kätzchen" war ein Märchen; "Der Schrecksenmeister" ist es auch und folgt den Regeln der Gattung. Aber innerhalb der Regeln regiert die Opulenz, die schiere Großzügigkeit, die entfesselte Fantasie. Die tobt sich schon auf der Gourmetstrecke aus, denn was Eisspin seiner Mastkratze vorsetzt, geht über die Erfindungsgabe der größten Sterneköche weit hinaus. Bei den "Metamorphose-Mahlzeiten" etwa verwandelt sich der Esser für eine Weile in das, was er gerade verspeist hat: So springt Echo als Lachs über Stromschnellen, jagt als Ledermaus durchs nächtliche Sledwaya und gerät als Dämonenbiene in eine höchst aggressive Gesellschaft, die einer Versammlung islamistischer Fanatiker nachgebildet ist.

    Höchst erfinderisch ist Moers auch wieder in der Sparte "Ungeheuer im Duell". Wer die wenigen Seiten gelesen hat, in denen die Schneeweiße Witwe mit den schlimmsten Geschöpfen Zamoniens aufräumt, als da sind Haselhexe, Zyklopenmumie, Laubwolf, Grauer Schnitter, Roggenmume und Goldener Ghoul: Der wird sich von den simplen Schlachtgemälden im "Herr der Ringe" oder von den raffinierteren, aber auch vorhersehbaren Kämpfen des Harry-Potter-Zyklus nicht mehr beeindrucken lassen. Tolkien und Rowling, das ist nämlich die Liga, in die Walter Moers gehört. Hören wir das Ende des Laubwolfs.

    "Der Wolf krümmte sich unter einem heftigen Schmerz. Er heulte steinerweichend, und danach stöhnte er geradezu wollüstig auf. Tränen standen in seinen Augen. Wieder krümmt er sich, ein grüner schaumiger Saft lief aus seinen Lefzen. Es sah sich um, mit verwirrtem, hilflosem Ausdruck in den wässrigen Augen, sein ganzer Leib zitterte. Die Blätter, die ihn von Kopf bis Fuß bedeckten, wurden steingrau, einige fielen aus. Noch einmal krümmte er sich und stöhnte, heftige Zuckungen ergriffen ihn. Er jaulte wie ein geprügelter Hund. Nun verlor er seine restliche Farbe, und seine Blätter wurden weiß. Sie fielen nach und nach herab, wie Schneeflocken bedeckten sie um ihn herum den Boden des Laboratoriums. Von dem gewaltigen Raubtier war nur noch das blanke Skelett übrig, in dem graue Organe pumpten und klopften. Dann ging der Laubwolf in die Knie. Es gab ein zartes Geräusch, wie von zerbrechendem Eis. Seine Knochen und Organe zerfielen zu weißen Flocken. Übrig blieb nur ein Haufen, der aussah wie frisch gefallener Schnee."

    Das ist weit weg vom Ton des Märchens, auch wenn in diesen gelegentlich böse Stiefmütter in Nagelfässer gesperrt werden, die man dann einen Wasserfall hinunter treiben lässt. Da ist, wie schon in "Rumo oder die Wunder im Dunkeln", eine ausgeklügelte Grausamkeit am Werk. Aber wer behauptet, die sei nicht von dieser Welt, der kennt diese Welt nicht. Moers kennt sie, aber er begnügt sich mit wenigen expliziten Parallelen. Die sind deutlich genug: Die fanatischen Dämonenbienen erinnern an fanatische Islamisten; dass Eisspin Gerüche in Fett konserviert, klingt weniger absurd, wenn man weiß, dass die Stasi Geruchsproben von Regimegegnern gesammelt hat. Die erschreckende Nähe zwischen Opfer und Henker, die Moers in einer scheinidyllischen Kraul- und Schoss-Szene beschwört, ist Psychologen als Stockholm-Syndrom bekannt. Schließlich erinnert das Schrecksenregiment Eisspins an Hexen- und Judenverfolgungen.

    "So durften Schrecksen weder nachts noch mittags oder spätnachmittags praktizieren, niemals bei Nebel oder Schrecksenmond, nicht an Feiertagen, bei einem bestimmten Luftdruck oder Temperaturen unter Null. Ferner nur in Häusern der sogenannten Schrecksengasse. Schrecksen durften nur zu bestimmten Stunden einkaufen, die alle innerhalb ihrer festgeschriebenen Arbeitszeit lagen, aber es war ihnen untersagt, während ihrer Arbeitszeit ein Geschäft zu betreten. Die Strafen reichten von empfindlichen Geldbussen bis zu monatelanger Dunkelhaft, Verbannung in die Friedhofssümpfe und Zwangsarbeit in den Schwefelminen der Dämonenklamm. Eine Schreckse bewegte sich in Sledwaya ständig auf dem dünnen Eis der Illegalität. Denn Eisspins Regelwerk war so raffiniert, dass er jeder Einzelnen zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Vergehen nachweisen konnte, selbst wenn sie schlafend im Bett lag. Die Folge war, dass Sledwaya zuerst die zamonische Stadt mit dem geringsten Schrecksenanteil und Schließlich sogar fast ganz schrecksenfrei wurde."

    Dennoch: "Der Schrecksenmeister" ist natürlich kein politischer Roman, es ist reine Erzähl- und Leselust, ein Mords-, nein: ein Moersvergnügen. Der Autor, aufgewachsen nicht mit Klassikern, sondern mit Comics und TV-Serien, ist kein Intellektueller, nicht mal ein "Inletektueller", wie sein fremdwortverballhornender Uhu Fjodor sagen würde. Zur Leselust gehört auch, dass Moers sein zamonisches Universum nicht enzyklopädisch abgrast - das taten seine barocken Vorgänger, weshalb ihre Schwarten unlesbar sind - sondern liebhaberisch sich die Leckerbissen herausklaubt. Er liebt die Aufzählung, übertreibt es aber nie damit. Mit langen Beschreibungen hält er sich nicht auf. Lieber bemüht er die Fantasie des Lesers. Und der lässt sich gern bemühen. Auch wenn das neue Buch nicht ganz das Niveau der "Stadt der träumenden Bücher" erreicht: Dem romaninternen Kompliment des Uhus Fjodor muss man sich anschließen.

    "'Donnerwetter!', rief Fjodor. 'Das ist ja eine filmunante Geschichte! Der Stoff, aus dem zamonische Kolflore geschrieben wird.'"

    Walter Moers: Der Schrecksenmeister
    Piper, München 2007, 384 Seiten, 22,90 Euro