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Archiv


Von Strawinsky und Sampling

13 schwere Bände umfasst das "Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert", das vom Laaber Verlag herausgebracht wird. Den Abschluss der Reihe bildet der jetzt herausgekommene letzte, 13. Band "Chronik der Musik im 20. Jahrhundert", herausgegeben von Frieder Reininghaus. Zusätzlich zu über 100 Seiten Register, mit denen die Bände I-XII erschlossen werden, bekommt der Leser eine Chronik des 20. Jahrhunderts mit Jahresschwerpunkten geboten. Je zwei Seiten führen durchs Jahr. Auf der linken liest man vierspaltig über "Politik und Wirtschaft", "Kultur und Wissenschaft", über "Musik und Musikleben" sowie über "Musik- und Tanztheater". Auf der Seite gegenüber, der rechten, wird ein einziges Thema als Schwerpunkt repräsentativ behandelt. Für dieses sogenannte "Kalenderblatt" wurden über 30 Autoren tätig.

Von Matthias Sträßner | 21.10.2007
    Das sind nicht nur die ersten Takte der Oper "Tosca" von Giacomo Puccini - das sind, wenn man so will, zugleich die ersten Takte des 20. Jahrhunderts. Denn am 14.Januar 1900, in Rom im Teatro Constanzi, findet die Uraufführung von Giacomo Puccinis "Tosca" statt. Und als wollte die Uraufführung unter Beweis stellen, dass dieses Stück mit all seiner Gnadenlosigkeit und Brutalität als Jahrhundertauftakt zu gelten habe, musste schon die Premiere wegen einer Bombendrohung unterbrochen werden.

    Die Chronik teilt uns das pflichtgemäß mit. Links, da wo das Kleingedruckte des Jahrhunderts, aber eben auch die harten Fakten ihren Platz haben. Weil diese Chronik aber nüchtern und sachlich bleiben will und auf Effekthascherei verzichtet, geht es beim Schwerpunkt-Thema auf der Seite gegenüber nicht um "Tosca", sondern um etwas vergleichbar Prosaisches: die Gründung des Wiener Phonogrammarchivs für das Jahr 1900. Wie der Leser beim Durchblättern der Chronik überhaupt zur Kenntnis nehmen muss, welche zentrale Rolle die so genannte Sekundärwelt der Musik, vom Archiv bis zur Reproduktion, im vergangenen Jahrhundert zugewiesen bekommt.

    " ''Die Wiener Operettenstars Mizzi Günther und Louis Treumann wurden erste Garanten dieses Welterfolges aus Exotik und Erotik, der im Zeitalter der beginnenden technischen Reproduzierbarkeit eines Kunstwerkes bereits vom Verlag durchgeplant wurde. Es gab Tonaufnahmen mit den Uraufführungsinterpreten (die beweisen, wie kabarettistisch unverplüscht einst gesungen wurde), eine Flut von Tanzkapellen- und Klavierbegleitungen." "

    So Manuel Brug in seinem Beitrag zu Franz Lehars Silvesterklassiker "Die lustige Witwe", dessen Uraufführung in das Jahr 1905 fällt und schon 1906 für die Platte reproduziert wurde. Walter Benjamin lässt in dieser Chronik grüßen, und gleich mehrere Schwerpunkt-Themen sind Fragen der Musik-Reproduktion gewidmet: von Lehars Operette bis zum "Sampling" (1996), von einer Geschichte des DJ (1985) bis zur Öffnung der Internet-Börse Napster im Jahr 1999 reichen die Schwerpunkte. Sie lassen leicht erkennen, dass der im 19. Jahrhundert ausformulierte Begriff des kulturellen Eigentums und der Originalschöpfung, schon im darauf folgenden 20. Jahrhundert ausgewischt wird.

    Heute entsprechen die rechtlichen Kategorien des Urheberrechts schon längst nicht mehr der ästhetischen Praxis, die mit einer "Kultur des Soundalike" bewusst an der Originalschöpfung vorbeispielt, wie erst unlängst Martin Kretschmer und Friedemann Kawohl in der Neuen Zürcher Zeitung dargelegt haben1. Die in der Chronik (neben Frieder Reininghaus) mit am häufigsten vertretene Autorin Sabine Sanio im Artikel über "Sampling":

    "Das Sample kennt weder Übertragungseffekte noch Unterschiede zwischen Kopie und Original, zwischen Aufzeichnung und live gespieltem Klang, man kann daher jeden Klang wie vorgefundenes Material verwenden. Ähnlich wie die Collage werden auch beim Sampling disparateste Elemente und Materialien miteinander kombiniert. Basis ist ein offenes Werkkonzept, das Objekte und Realitätspartikel jeglicher Art als ästhetisches Material akzeptiert. Seine ästhetische Relevanz erhält das Sample durch den Kontext, in den es gestellt wird." (Sanio a.a.O. p.209) "

    Wie geht diese Jahrhundert-Chronik aber mit Daten der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts um, die sich schon in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben? Ein solches Kristallisationsjahr ist beispielsweise das Jahr 1913. Am 29. Mai findet im Théâtre des Champs-Elysées die Uraufführung von Igor Strawinskys "Le sacre du printemps" statt. Ebenso die Uraufführung von Arnold Schönbergs Kammersymphonie op.9 , die gleichfalls einen beträchtlichen Skandal auslöste. Seit 1913 stehen die Adornoschen Antipoden Strawinsky und Schönberg wie Portalsäulen moderner Musik fest in der Erde.

    " Dem Leser wird in der Tat ein Kalenderblatt zur Uraufführung von "Sacre du printemps" gegeben. Und stichwortartig erfährt er von der Einführung des Fließbands bei den Ford- Automobilwerken auch davon, dass Marcel Proust seinen Romanzyklus "A la recherche du temps perdu" begonnen hat. Vor allem aber auch, dass Josef Matthias Hauers 1. Symphonie und sein opus 1 "Nomos" uraufgeführt wurde, und dass Anton Webern das Bühnenstück "Tot" ("nach psychoanalytischer Behandlung bei Alfred Adler in Wien") unter dem Einfluss von Swedenborgs "Vera religio" schrieb. "

    Das ist zwangsläufig im Steno-Stil notiert, aber doch auch immer fein ziseliert. Das hat - wie man an diesem Beispiel schon sieht - vielleicht Gefahren, aber noch viel mehr Reiz.

    Nicht weniger als 1913 ist auch 1928 ein "Jahrhundertjahr". Hier entscheidet sich das Kalenderblatt für Ravels "Bolero". Mit der Uraufführung von Bertolt Brechts und Kurt Weills "Dreigroschenoper" oder auch mit Werken von Gershwin wären andere Schwerpunkte möglich gewesen. Der musikalische Kontext bleibt gut sichtbar, und dass die Wahlmöglichkeiten den Autoren selbst ‚in den Fingern gejuckt' haben, lässt sich an eingestreuten Sätzen wie dem folgenden entnehmen:

    " "Bertolt Brecht mokiert sich über den Erfolg der Dreigroschenoper und ihrer Verfilmung, weil diese dem Stück nahm, worauf es den Autoren ankam: Auf die Gesellschaftskritik."

    Verständlicherweise sehen sich die Herausgeber der "Chronik der Musik im 20. Jahrhundert" nicht dazu berufen, eine Gesamtwertung des Jahrhunderts abzugeben. Frieder Reininghaus und die beiden jungen Dramaturgen Florian Lutz und Janka Voigt schreiben in ihrem gemeinsamen Vorwort:

    "Die Herausgeber gehen nicht davon aus, dass das Jahr 1900, mit dem die Tabellen einsetzen, einen epochengeschichtlichen Einschnitt für Musikleben und Theaterbetrieb markiert; auch beim Jahreswechsel 2006/07, mit dem wir schließen, ist dies nicht der Fall. So, wie es gute Gründe gibt, das 19. Jahrhundert als Epoche vom Beginn der ersten Französischen Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 reichen zu lassen, so mag es aus späterer Perspektive einmal sinnvoll erscheinen, das besonders turbulente, inhumane und blutige 20. Jahrhundert als Zeiteinheit auf die Jahrzehnte zwischen 1914 und 1989/1990 zu beschränken."

    Was die Herausgeber nicht hindert, immer wieder - fast beiläufig - Klammern anzubieten, die den vorgeschlagenen Zeitrahmen - durchaus sinnvoll - sprengen. Die Jahre 1906 und 1998 sind zum Beispiel ein Angebot, das die vorliegende Chronik selbst macht: Im Jahr 1906 - ganz sicher ist das nicht - hat Charles Ives sein Orchesterstück "The Unanswered Question" geschrieben, und Christoph Marthalers Musiktheater-Revuen zum Jahrhundertende, laut Chronik "einer der markantesten Wege am Ende des Jahrhunderts", greifen Ives nicht nur im Titel wieder auf.

    Die Trompete markiert aber nicht nur eine Frage, die gleichsam über das ganze Jahrhundert tönt, sie markiert womöglich auch die Tatsache, dass das 20. Jahrhundert in der Musik - nicht anders als in der Literatur und Bildenden Kunst auch - nachgerade als "das amerikanische Jahrhundert" gesehen werden kann, vielleicht gesehen werden muss.

    Schon die Urheberrechtsverletzung, die im Zusammenhang mit den New Yorker "Parsifal"-Aufführungen des Jahres 1903 statt fand, ist ein symbolischer Akt. Hier löst sich der amerikanische Musikbetrieb ostentativ aus der Bevormundung Europas. Die Chronik macht in vielen Kalenderblättern klar, wie viel Europa im letzten Jahrhundert musikalisch Amerika verdankt. Die Rolle, die Charles Ives, George Gershwin, Aaron Copland, der Jazz, John Cage, Phil Glass, Bernstein, ja auch Elvis Presley für Europa spielen, ist nicht zu unterschätzen. Die Schwerpunkt-Themen vollziehen dies ja auch anschaulich nach. Umso mehr erstaunt die Behandlung des 11.September 2001 im Kleingedruckten.

    " "In New York werden die beiden Türme des World Trade Center durch zwei gekaperte Passagierflugzeuge zum Einsturz gebracht (mehr als 3000 Tote); gleichzeitig wird das Verteidigungsministerium ("Pentagon") in Washington angegriffen sowie eine 4. Maschine entführt; in der Folge rüsten die USA und ihre Verbündeten z. Kampf gegen 'internationalen Terrorismus' sowie Staaten, die seiner Unterstützung verdächtigt werden.". "

    Die grammatische Form ist interessant: wer die Türme des World Trade Center zum Einsturz gebracht hat, wird nicht gesagt. Die grammatikalische Konstruktion bedient sich des anonymen Passivs: die Türme "werden zum Einsturz gebracht". Dagegen werden die USA im Anschluss sofort als Urheber der Aufrüstung benannt, und die Initiative des folgenden Konflikts der amerikanischen Seite zugeschoben.

    Das mag man politisch so werten wollen. Hinweise auf die kriegsförderliche Politik der USA können kein Tabu sein. Aber wer zwischen 1904 - dem Jahr, in welchem sich der US- Marineoffizier Pinkerton in Giacomo Puccinis "Madama Butterfly" ein weibliches "Haustier" zulegt - und dem Jahr 2001 eine Jahrhundertklammer des amerikanischen Imperialismus setzen will, sollte sich ins europäische Gewissen reden lassen. Die konstruktiven und destruktiven Seiten unseres Amerika-Bildes hängen auf kompliziertere Weise zusammen als hier sichtbar wird.

    Und ist es wirklich Zufall, dass die Chronik das krude Statement des deutschen Komponisten Karlheinz Stockhausen, der den Anschlag von 2001 zum größten aller Kunstwerke erklärte, noch nicht einmal im Kleingedruckten vermerkt? Hätte dieser Beitrag eines nun wirklich bedeutenden Komponisten nicht sogar ein Kalenderblatt sein müssen? So muss man den Eindruck haben, dass das, was das Lexikon in mitunter launig vorgetragener Amerikakritik in der Chronologie links in Paginierung und Meinung einflicht, in über 20 Kalenderblättern, die sich letztlich mit einer von Amerika abhängigen Musikentwicklung Europas im 20. Jahrhunderts beschäftigen, rechts wieder aufgehoben wird.

    Bei einem solchen Groß-Unternehmen darf man über lässliche Sünden hinwegsehen: über die Notwendigkeit etwa, auch mal "zu schieben", wenn das Kalenderjahr zwei Schwerpunkt-Kandidaten bietet: so muss Maria Callas, wahrlich ein Kristallisationspunkt der Diven- und Starkultur des letzten Jahrhunderts, in ihrem Todesjahr 1977 einem Schwerpunkt über "Times Square" von Max Neuhaus weichen. Die Diva wird erst 1983 im Zusammenhang mit dem Fellini-Film "E la nave va" gewürdigt.

    Warum Herausgeber und Verlag eine Chronik des 20. Jahrhunderts freiwillig bis 2006 verlängern, um dann das Thema "Mozart-Rezeption" nicht im Jubiläumsjahr 2006, sondern 2003 am Beispiel einer Aufführung Alain Platels bei der Ruhrtriennale behandeln, bleibt ein Rätsel, das noch am ehesten mit dem Reisekalender des Autors gelöst werden kann. Ebenso bleibt ein Rätsel, warum das Jahr 1901 ausgerechnet der Komponistin Adriana Hölsky gewidmet ist. So sehr man dieser bedeutenden und nach wie vor weit unterschätzten Komponistin große und substantielle Einträge in noch kommenden Chroniken des 20. und 21. Jahrhunderts wünscht - ausgerechnet das Auftakt-Jahr des Chronik-Bandes verletzt eine ansonsten konsequent eingehaltene Dramaturgie, der zu Folge das Kalenderblatt einem Werk oder einem Phänomen der musikalischen Praxis des betreffenden Jahres gewidmet ist.

    Seine große Stärke erreicht der Band verständlicherweise in den 70er, 80er und 90er Jahren. Hier können Frieder Reininghaus und ein Großteil der Kritiker-Kollegen ihre eigenen Erfahrungen als Musikkritiker fulminant ausspielen. Hier werden die Kalenderblätter klug und auch nicht einseitig aus der gewaltigen Anzahl wichtiger Ereignisse herausdestilliert: da kommen Mauricio Kagel, Friedrich Schenker, Wolfgang Rihm, Olivier Messiaen und Helmut Lachenmann voll zu ihren Recht, aber eben auch Keith Jarrett mit seinem "Köln Concert", Andrew Lloyd Webbers "Phantom of the Opera" und sogar die erste "Berliner Love Parade".

    Auch hält die Chronik einige lohnende Überraschungen bereit: das Kalenderblatt des Jahres 1919 über den musikalischen "Volkspädagogen" Fritz Jöde etwa, dessen "deutsche Laufbahn" zeigt, wie Elemente der bündischen Jugendbewegung relativ mühelos Aufnahme in den musikalischen Institutionen der Bundesrepublik fanden. In solchen Momenten ist die Chronik in der dargebotenen Mischung aus Vollständigkeitsanspruch und hoher Subjektivität ein großer Gewinn. Gut lesbar und sehr übersichtlich aufgebaut ist diese Chronik allemal.