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Von Traumatisierung und Rehabilitation

Richard Powers Romane geben sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Sie versuchen etwa Genetik und Atomphysik in erzählerische Schwingungen zu versetzen, oder sie bringen das Platonische Höhlengleichnis auf die Höhe des Cyberspace. Im neuesten Werk ist Hirnforschung angesagt.

Von Martin Ebel | 12.11.2006
    Drei große Kränkungen hat der moderne Mensch einstecken müssen, und zugefügt hat sie ihm sein eigener Forschergeist. Mit Kopernikus ist die Erde aus dem Zentrum der Welt gerückt, ganz nahe gerückt dafür seit Darwin die äffische Verwandtschaft. Und was immer man von Freud halten mag: Dass der Mensch nicht "Herr im eigenen Haus" ist, sondern ein Getriebener , da hat der Erfinder der Psychoanalyse zweifellos recht.

    Nun könnte die aktuelle Hirnforschung diesen Kränkungen eine vierte hinzufügen. Das Ich nämlich, fragt sie, diese lenkende Instanz, die triebhafte Wünsche und moralische Vorgaben im Gleichgewicht zu halten sucht, gibt es das überhaupt? Indem die Hirnforschung das Zentralorgan immer genauer kartiert, die Aufgaben einzelner Regionen immer besser analysiert, Funktionen lokalisiert, droht sich die Vorstellungen des Gehirns als eines Ganzen zu verflüchtigen. Bildlich gesprochen: Unter unserer Schädeldecke sitzt kein Monarch, der seinen Hofstaat und seine Truppen im Blick und im Griff hat, sondern es greifen - im besten Fall - die unterschiedlichsten Kräfte ineinander, unter weniger günstigen Umständen agieren sie unabhängig oder gegeneinander.

    "Wir glauben","

    sagt der Neurologe Gerald Weber,

    ""wir glauben, wir haben die Kontrolle über unseren eigenen Staat; alles in der Neurologie sagt uns, dass das nicht der Fall ist. Wir halten uns für eine einige, souveräne Nation. Die Neurologie zeigt uns, dass wir ein blindes Staatsoberhaupt sind, das sich in der Präsidentensuite verschanzt und nur auf handverlesene Ratgeber hört, während in unserem Land die Mächte des Chaos mobilmachen."

    Gerald Weber ist eine Erfindung des amerikanischen Schriftstellers Richard Powers und eine der Hauptfiguren in seinem neuen Roman "Das Echo der Erinnerung". Es ist bereits der neunte dieses Autors, der mit 49 Jahren längst zu alt für ein Wunderkind ist, aber durchaus den Ehrentitel "The Brain" verdient hätte. Seine Bücher, von denen erst vier ins Deutsche übersetzt sind, geben sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Sie versuchen etwa Genetik und Atomphysik in erzählerische Schwingungen zu versetzen, oder sie bringen das Platonische Höhlengleichnis auf die Höhe des Cyberspace; der vorletzte, ein Wälzer mit dem schönen Titel "Der Klang der Zeit", verschränkte die Geschichte der Rassendiskriminierung in den USA mit der Leidenschaft für klassischen Operngesang. In der Generation derer, die die dominanten Alten, die Updike, Roth, Pynchon zu beerben im Begriffe sind, ist er der ehrgeizigste Konstrukteur, derjenige auch mit der umfassendsten wissenschaftlichen Bildung. Richard Powers hat, bevor er sich auf die Literatur warf, Physik studiert und eine Zeit als Programmierer gearbeitet. Vielleicht ist er aber auch der kälteste, der zerebralste. Diesen Vorwurf hat ihm die Kritik immer wieder gemacht, und er trifft auch den neuen Roman mit einem gewissen Recht.

    "The Brain" widmet sich also diesmal dem Gehirn, in der Hauptsache einem beschädigten Gehirn: Mark Schuler, ein 27-jähriger Junggeselle, der in der Fleischfabrik von Kearney, Nebraska, die Maschinen wartet, kommt in einer Februarnacht mit seinem Truck von der Fahrbahn ab. Es ist nicht ganz klar, warum: Die Straße verläuft an dieser Stelle schnurgerade, und Mark hat nichts getrunken. Der Truck fällt kopfüber in den Graben, und der Fahrer liegt lange eingeklemmt dort, bis er gefunden und ins Krankenhaus gebracht wird. Er ist schwer verletzt, aber nicht irreparabel. Der Roman verfolgt nun eine Weile aus der Perspektive seiner Schwester Karin den langwierigen Genesungsprozess. Nach zwei Wochen ist Mark aus dem Koma erwacht, ganz allmählich beginnt er zu sprechen, und nach etlichen Monaten der Rehabilitation ist er fast wieder der Alte. Das freut auch den Leser, denn bis dahin hat der Autor wenig überzeugend versucht, auch aus dem Koma heraus Literatur zu produzieren. Abwechselnd mit Karins Beobachtungen gibt er auch dem schwerstverletzten Mark eine Stimme, und die klingt etwa so:

    "Eine Pyramide aus Licht, glühende Diamanten, rotierende Sternenfelder. Sein Körper zwängt sich durch neonhelle Dreiecke, ein Tunnel, der aufwärts führt. Das Wasser über ihm, seine Lungen brennen, dann schießt er hinauf, an die Luft. Wo Mund war, nur noch glatte Haut.

    Undurchdringliches verschließt diese Öffnung. Haus umgebaut; Fenster übertapeziert. Tür nicht mehr Tür. Muskeln zerren an den Lippen, aber nichts, was sich öffnen ließe. Nur noch Drähte, wo einst Wörter waren.

    Das Gesicht ein Zerrbild, in die eigenen Augen gestürzt. An ein Metallbett gefesselt, die Hölle, der er nicht entrinnen kann. Die kleinste Bewegung ein Schmerz, schlimmer als der Tod. Vielleicht ist der Tod schon vorüber. Gänzlich vorüber, nach einem Ab und Auf seines Lebens. Wer will schon leben nach so einem Fall?"

    Wieder unter den Lebenden, weigert sich Mark allerdings, seine Schwester Karin als solche zu erkennen: Man wolle ihm da eine Doppelgängerin unterschieben, behauptet er steif und fest. Der Kasus ist bekannt und medizinisch seit langem katalogisiert: Mark leidet am Capgras-Syndrom, einer Wahnvorstellung, bei der nahe Angehörige - selten auch Haustiere - nicht erkannt werden. Hören wie noch mal Doktor Weber:

    "Capgras-Patienten glauben, dass Leute, die sie lieben, durch genauso aussehende Roboter, Doppelgänger oder Außerirdische ersetzt worden sind. Jeden anderen erkennen sie ohne weiteres. Das Gesicht der geliebten Person weckt Erinnerungen, aber keine Gefühle. Der Mangel an emotionaler Bestätigung wiegt schwerer als die rationale Bestätigung durch die Erinnerung. Oder man könnte es auch so sagen: Die Vernunft erfindet höchst aufwendige, unvernünftige Erklärungen dafür, dass bei den Gefühlen etwas nicht stimmt. Die Logik ist von den Emotionen abhängig."

    Marks Störung ist menschlich bewegend und ihre Behebung ein starkes Motiv, das den Roman vorantreibt - die missachtete Schwester Karin bildet eines der Zentren des (analog zum Hirnmodell und konsequenterweise) polyzentrischen Buches. Ihr Einsatz für den Bruder ist fast übermenschlich und grenzt an Selbstaufgabe. Sie verliert ihren Arbeitsplatz als Kundenberaterin in einer anderen Stadt; sie zieht in das elende Häuschen ihres Bruders und muss sich eingestehen, dass alle ihre Versuche, ein eigenes Leben fernab der Heimatstadt und der Vergangenheit zu führen, gescheitert sind. Mit ihrer Fürsorge erfüllt sie das Vermächtnis der Mutter, die auf dem Sterbebett die beiden Kinder verpflichtet hatte, im Notfall immer füreinander da zu sein. Ist das also die sattsam bekannte sentimentale Familiensoße, die uns auch aus amerikanischen Romanen neuerdings verstärkt entgegenfliest?

    Durchaus nicht: Karins und Marks Kindheit ist traumatisch besetzt. Der Vater war ein doppelt Gescheiterter, als Geschäftsmann wie als Farmer, die Mutter eine christliche Fundamentalistin, die sich wenigstens die Darwinsche Kränkung ersparte und an die Schöpfung so glaubte, wie sie die Bibel erzählte.

    "Zuhause - der Ort, dem man niemals entrinnt, nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen."

    Das ist nun das Gegenteil jeder familiären Verklärung. In diesem Zuhause ist Karin wieder gefangen, in diese Vergangenheit muss sie hinab, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben kann, Mark von ihrer Identität zu überzeugen - mit Details aus der gemeinsamen Kindheit, die nur sie kennen kann. Auch ihre Versuche, Mark in Situationen zu bringen, die ihm den Wahn wie Schuppen von den Augen fallen lassen, sind vergeblich. Heilung kommt erst viel später durch den wohldosierten Einsatz von Psychopharmaka.

    Aber das Capgras-Syndrom ist für Richard Powers mehr als ein Hebel, um die Psychodynamik familiären Zusammenhalts bei gleichzeitiger Verdrängung schwerster Traumata auszuagieren - nach dem Motto: Wir lieben uns, aber auch unsere Leichen im Keller. Capgras ist ein Symbol: einerseits dafür, wie schnell das, was wir die Persönlichkeit nennen, auseinander fallen kann, zum anderen für die Unabhängigkeit der einzelnen Leistungszentren des Gehirns.

    Damit dies erzählerisch gelingen kann, führt der Autor seinen Doktor Weber ein, einen Hirnforscher, der es durch die anschauliche Darstellung von Fallgeschichten zum populären Autor, ja zu einer Art Starruhm gebracht hat. Wer hier an Oliver Sacks denkt und seine Erfolgsbücher wie den "Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte", liegt nicht falsch. Weber darf und muss die imponierende angelesene Hirnforschungsbildung des Autors dozierend umsetzen, was nicht immer ohne Fachtermini und andere Renommiererei abgeht. Allerdings, und das ist schön und gerecht gedacht, wird der Fall für den Forscher selbst zum Stolperstein, ja zum Menetekel. Zur selben Zeit, als er sich mit dem interessanten Fall Mark Schuler befasst - Capgras nach Schädelverletzung, äußerst selten, dafür fährt er auch von New York nach Kearney -, zur selben Zeit kommt sein neues Buch mit nett erzählten Fallgeschichten auf den Markt und wird von der Kritik unsanft angefasst.

    Man wirft ihm durch die Blume vor, die Patienten für seine persönliche Profilierung zu missbrauchen. Eine schockierende Erfahrung für den erfolgsverwöhnten Arzt. Er kann damit nicht umgehen, obwohl er die Eigendynamik der Kritik durchschaut - nach soviel Zustimmung muss ein Gegenschlag kommen, auch Kritiker suchen die Profilierung -, verinnerlicht er die Argumente seiner Gegner, macht sie sich zu eigen. Er zweifelt an seiner Arbeit, an seinem gesamten Forscherleben, und entwickelt im Handumdrehen eine ausgewachsene Paranoia. Powers beschreibt dies sehr anschaulich im Verlaufe eines Kongresses in Sydney, auf dem Weber auftritt und bei dem er überall Anzeichen für seine Demontage bemerkt.

    "Dann folgte ein qualvolles Bankett, in dessen Verlauf seine Tischgenossen - drei amerikanische Forscher, die er dem Namen nach kannte - ihn auf die verhaltene Aufnahme, die sein neues Buch gefunden hatte, ansprachen. War es Zufall oder hatte sich der Geschmack des Publikums nachhaltig verändert? Schon allein das Wort 'Publikum' klang wie ein Messerstich. Notgedrungen antwortete er: 'Ich nehme an, nach soviel Anerkennung war ein solcher Rückschlag unvermeidlich.' Schon als er das sagte, merkte er, wie sehr seine Worte nach einer Ausrede klangen, Worte, die diese drei Forscher jetzt überall herumerzählen würden. Sämtliche Kongressteilnehmer würden sie hören, noch ehe er mit seinem Vortrag begann.

    Einer der Organisatoren des Kongresses, ein aus Washington stammender Vertreter der holistischen Psychotherapie, kündigte ihn mit so überschwänglichen Worten an, dass es fast schon wie Spott klang. Erst als Weber hinter dem Rednerpult stand, zu einem Zeitpunkt, der in Sydney angeblich acht Uhr abends war, kam ihm der Gedanke, dass die ganze Einladung womöglich ein übler Trick war. Er blickte über eine endlose Grassteppe, übersät mit den lächelnden, erwartungsvollen Gesichtern einer Spezies, die in Rudeln jagte."

    Tragisch und komisch zugleich: Gerald Weber, der erfolgreiche Wissenschaftler und Wissenschaftspopularisierer, ist drauf und dran, weil er alles zu verlieren meint, ebendiesen Verlust herbeizuführen - den seiner wissenschaftlichen Reputation, den seiner Ehe, den seiner Persönlichkeit. Das ist faszinierend zu verfolgen, auch weil es eine unübersehbare Parallele zu Marks beschädigter Persönlichkeit darstellt, und auch, weil diese Parallele nicht schrill herausgeschrieen wird. Was als krank und gesund anzusehen ist, lässt sich gar nicht so einfach festlegen, folgern wir daraus, nicht mal mit den modernsten Methoden der Hirnforschung.

    "Das Echo der Erinnerung" wuchert ein bisschen viel mit den angesammelten Kenntnissen, aber es integriert in die doppelte Story von Traumatisierung und Rehabilitation auch anderen wertvollen epischen Stoff. Es ist auch der Roman eines gottverlassenen Kaffs in der verlorenen Mitte der USA, einem Niemandsland, in dem man nur saufen, prügeln oder beten kann - und neuerdings ins Internet.

    "Das Internet war über Nebraska gekommen wie Schnaps über einen Steinzeitstamm - das Gottesgeschenk, auf das jeder Nachfahr der Siedler in dieser Einöde gewartet hatte, das einzige Mittel, ein solches Maß an Leere zu ertragen. Karin selbst hatte das Web Tag für Tag missbraucht, als sie noch in der Siouxmetropole war: Reise-Sites, Auktions-Sites für billige, aber gut erhaltene Kleider, Delikatessen-Sites, mit deren Produkten sie die Herzen ihrer Arbeitskollegen eroberte, ein- oder zweimal sogar eine Partnervermittlung. Das Net: das letzte Heilmittel gegen den Wüstenkoller. Doch was sie tat, war nichts im Vergleich zu Marks Sucht. Er und seine Freunde steckten gemeinsam hinter zwei Dutzend Online-Avataren, redeten Anzügliches mit Hausfrauen in Chatrooms, stellten verstiegene Verschwörungstheorien in Foren, luden fragwürdige Fotos hoch. Die Hälfte der Zeit außerhalb der Fabrik lebten sie als Fantasy-Gestalten in diversen alternativen Welten. Die Masse an Zeit, die er bereitwillig mit purer Phantasie verbrachte, war ein Grund zur Panik für sie. Jetzt war er noch tiefer abgetaucht, an einen Ort, an dem kein Instant Messenger ihn erreichen konnte. Und aller Schaden, den das Web ihm hätte zufügen können, klang wie das Paradies."

    "Das Echo der Erinnerung" ist schließlich auch, und das im Verlauf des Buches immer stärker, ein "grüner" Roman. Er erzählt vom Kampf um ein ökologisches Juwel, das von mächtigen Interessengruppen in eine ökonomische Goldgrube verwandelt werden soll, wogegen sich ein tapferes Häuflein von Umweltbewussten wehrt. Um zu zeigen, worum es geht, reißt Richard Powers den Vorhang weit auf und lenkt unseren Blick auf eine ferne, auch menschenferne Vergangenheit. Einst, bevor die Weißen kamen, war Kearney bevölkert von Bisonherden.

    "Herden, von denen nichts übriggeblieben war. Ebenso wenig wie vom Schakal und vom einheimischen Jäger: ausgemerzt. Die Städte der Präriehunde, deren unterirdische Strassen sich über Meilen erstreckten, hatte man mit Gift überschwemmt. Der Flussotter war fast ausgestorben.
    Gabelböcke, graue Wölfe: bis auf den letzten abgeschossen."

    Nur eine Spezies hat den Vernichtungszug des Menschen überlebt - weil sie sich nur wenige Wochen in die Gefahr begibt. Es ist der kanadische Kranich, der zweimal im Jahr an einem kleinen Stück des Platte River Station macht, auf dem Weg zu den Sommer- und den Winterplätzen. Wenige Wochen an einer besonderen Stelle - an der "winzigen Engstelle einer den gesamten Kontinent umspannenden Eieruhr".

    Diese Kraniche, eine halbe Million Exemplare, vier Fünftel des gesamten Bestandes ihrer Art, die sich hier auf engem Raum versammeln, sind ein Naturwunder, das natürlich Touristen anzieht und Interessenten auf den Plan ruft. Der Fluss ist flach hier, das ist gut und prekär. Entzieht man ihm zuviel Wasser, verlieren die Kraniche ihre Lebensgrundlagen. Um diesen Handlungsstrang mit dem Hirnforschungs- und Rehabilitationsthema zu verbinden, gibt Powers seiner Heldin Karin zwei Liebhaber: der eine, ein Ex-, aber vielleicht bald wieder aktueller Lover, ein smarter Geschäftsmann, treibt ein Immobilienprojekt voran, das dem Kranichfluss buchstäblich das Wasser abgraben würde. Der andere ist ein in der unbehandelten Wolle gefärbter Öko, ein Hundertfünfzigprozentiger, natürlich Vegetarier und Abstinenzler, der in seiner Wohnung bei 16 Grad friert und warme Duschen wegen des Energieverbrauchs ablehnt; von einer enervierenden Friedfertigkeit, die aber auch etwas Unmenschliches hat - Kinder will er natürlich auch keine.

    Deutsche Leser, wenn sie den Jahrgängen 1950 bis etwa '65 angehören, werden sich an manche Gestalten in ihrem eigenen biografischen Umfeld erinnert fühlen. Dieser Daniel kämpft in einer Umweltinitiative dafür, die Rastplätze der herrlichen Vögel zu schützen und jede Bautätigkeit zu verbieten. Karin steht zwischen beiden, sie trägt Informationen hin und her und fühlt sich nicht nur zerrissen zwischen zwei Positionen, sondern auch ganz interessant als Doppelagentin. Politisch ergibt sich dann das übliche Spiel mit Intrigen und Finten, institutionellen und finanziellen Winkelzügen, und das bekannte Dilemma: Soll man einen Kompromiss eingehen, also eine Kranich-Beobachtungsstation zulassen, die das Interesse der Touristen bedient und kontrolliert, und so das Schlimmste verhüten - einen Spaßpark mit hohem Wasserverbrauch und katastrophalen Folgen? Oder holt man sich durch das Erste das Zweite erst ins Haus?

    Richard Powers hat in einem Interview gesagt, dass der Anblick von Hunderttausenden sich in die Lüfte erhebenden Kraniche ihn zu seinem Roman inspiriert hat. Die Begeisterung hat ihre Spuren hinterlassen in für diesen Autor ungewöhnlich schwärmerischen Passagen. Jeweils der Anfang eines der fünf Teile des Buches ist den Vögeln gewidmet. Powers beschreibt die rastende, schlafende, dann sich erhebende Masse, dann greift er ein Vogelpärchen heraus, bald begleitet von einem Jungvogel.

    "Wie immer in dieser Jahreszeit tarnen sie sich mit Blättern und Schlamm. Ihr Nest, ein von einem Wassergraben umgebener Hügel aus Pflanzen und Federn, misst fast einen Meter im Durchmesser. Sie rufen einander, aus geschwungenen dröhnenden Posaunenkehlen. Sie tanzen, verbeugen sich tief, bearbeiten die kühle, salzige Luft mit ihren Füssen, verbeugen sich erneut, springen, drehen sich, spreizen die Flügel, die Hälse nach hinten gerückt in einer Mischung aus Anspannung und Freude: ein Frühlingsritual am nördlichen Rand der belebten Welt."

    Außerdem trägt der Autor auch noch alles mögliche zusammen, was sich in der Mythologie verschiedener Kulturkreise über diesen Vogel finden lässt. Alles Kranich oder was?, möchte man manchmal fragen. Aber wieder gelingt es dem kühnen Konstrukteur Powers, eine Brücke zu seinem zentralen Thema zu schlagen, oder, um im Bild zu bleiben: einen Nervenstrang vom Kranich zum Gehirn zu ziehen. Die Kraniche, schreibt er, haben kein Ich, sie können auch nicht lieben in unserem Sinne, also durch Individualisierung eines Mitgliedes ihrer Gattung. Sie sind deshalb auch kein epischer Stoff, sondern immer nur für wenige Seiten schlichte Handlung gut. Gerade die Kraniche eignen sich aber zur Demonstration der These von der Unabhängigkeit einzelner Hirnfunktionen.

    Denn das Gehirn der Vögel ist sozusagen nur Gedächtnis: Seit 60 Millionen Jahren ist ihr Weg von den Winter- zu den Sommerplätzen gespeichert, quer über den Kontinent, und dieses Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Das Echo der Erinnerung - und hier erhält der Romantitel seinen Sinn - funktioniert auch bei Jungvögeln, die noch nie dort gewesen sind, wohin sie gleichwohl schlafwandlerisch finden. Auch wenn zwischendurch etwas viel in die Kraniche hineingeheimnisst wird: Powers gelingt es, ihrem über Millionen Jahre funktionierenden Lebenszyklus eine spezifische Würde zu geben - und die gern für eine Handvoll Dollars auf dergleichen herumtrampelnden Menschen entsprechend schlecht aussehen zu lassen.

    Der schönste Gedanke des Buches hat dann wieder direkt mit dem Gehirn zu tun. Es ist ein Gedanke von Doktor Weber, der sich durch den Fall des Beschädigten Mark Schuler bestätigt sieht: Das Bewusstsein, meint er, akzeptiert die dem Gehirn zugefügte Verletzung nicht, es schafft immer neue Begründungen für den krankhaften Zustand. Affabulieren nennt es der Fachmann. So versucht Mark alles, um an der Fiktion der falschen Schwester festzuhalten, entwickelt sogar eine Reihe zusätzlicher Krankheitssymptome wie Paranoia oder die Überzeugung, tot zu sein. Als ihm Karin schließlich etwas bietet, das nur sie wissen kann, schließt Mark messerscharf, sie, die Verfolger, hätten die Doppelgängerin halt verdrahtet.

    Man kann das pathologisch finden und nach Krankheitssymptomen katalogisieren (und das lässt sich der Autor natürlich nicht nehmen, macht uns mit dem Cotard-Syndrom und dem Fregoli-Syndrom bekannt), aber man kann es auch kreativ sehen. Und das tut Doktor Weber, für den Autor und für uns, die Leser. Das, was unser Innerstes zusammenhält, sind die Geschichten, mit denen wir die disparaten Teile zu integrieren versuchen. Unsere Geschichten, unsere Fiktionen, sollten sie das eigentlich Ich bilden? Ein beklemmender Gedanke. Aber einer, der einem Romancier, einem Verfertiger von Geschichten, ausgesprochen nahe liegen muss. Doktor Weber jedenfalls hilft diese Erkenntnis auch in seinem eigenen Fall. Eine zusammenhängende, wenn auch erfundene Geschichte ist stärker als die Wahrheit unserer Auflösung.