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Von Warschau nach Kazimierz

Die Weichsel wird oft als der letzte wilde Fluss Europas bezeichnet. Er konnte sich seinen ursprünglichen Charakter weitgehend bewahren und ist Heimat für viele seltene Vogel- und Pflanzenarten. Die Stiftung "Jawisła" bietet Bootstouren an.

Von Elisabeth Lehmann | 23.10.2011
    Auf der Nieuchwytny darf jeder mal ans Steuer. Normalerweise ist Przemek Pasek hier der Kapitän. Doch heute wagt sich Piotrek daran, das vier Meter lange Holzboot über die Weichsel zu lenken. Nicht ganz einfach, die Weichsel hat schließlich ihre Tücken. Setzt Piotrek das Boot auf Grund, müssen alle aussteigen und schieben. Daher fragt er lieber dreimal nach, auf welchem Weg er die Insel vor sich umschiffen soll.

    Seit acht Tagen sind sie nun schon unterwegs. Von Warschau bis nach Kazimierz und zurück. Es ist das spannendste Stück der Weichsel, denn hier ist sie noch weitgehend unberührt. Zwar hat es vor allem im 19. Jahrhundert Versuche gegeben, den Fluss zu begradigen, doch die Weichsel hat sich erfolgreich gewehrt, wie Przemek erzählt:

    "Damals hatte man die Idee, dass sich alles regulieren und begradigen lässt, einfach Flüsse zu konstruieren für 1000-Tonnen-Schiffe. Der Strom wurde an die Schiffe angepasst und nicht daran, wie der Fluss fließen will. Massen von Wissenschaftlern haben daran gearbeitet, gigantisch viel Geld ausgegeben. Und wie sieht es heute aus? Der Fluss hat sich alles zurückgeholt. Wir fahren hier durch die Ruinen dieser Uferbefestigungsanlagen."

    Auch im 20. Jahrhundert sollte die Weichsel für die Schifffahrt genutzt werden, etwa um Kohle zu transportieren. Es war eine Art Prestige-Projekt der sozialistischen Regierung. Sie hat Millionen in den Ausbau investiert, um dann zu merken, dass es sich wirtschaftlich nicht rechnet. Nach der Wende hat man das Projekt endgültig aufgegeben. Ein Glück für die Weichsel, denn nur so konnte sie ihren wilden Charakter weitgehend bewahren.

    Und so zieht sie heute viele Abenteurer an, die den Fluss bezwingen wollen und ihn dabei oft unterschätzen.

    So auch Tadeusz. Przemek liest den 61-Jährigen und seinen Mischling Lucky am Ufer auf. Eigentlich wollte Tadeusz von Opatowiec nach Plock paddeln mit seinem selbst gebastelten Doppelkajak. Doch bei dem Sturm kommt er nicht voran.

    "Für mich ist das hier wie der Amazonas. Das will mir nicht in den Kopf gehen. Ich bin dermaßen beeindruckt. Ich wusste nicht, dass es hier so viele Sandbänke gibt. Ich sehe es ja verdammt noch mal aus meinem Boot nicht, dass es zu flach ist."

    Tadeusz nimmt eine durchgeweichte Schachtel Zigaretten aus seiner armeegrünen Steppjacke und zückt das Feuerzeug. Doch er kommt nicht dazu, sich eine anzuzünden. Auf Przemeks Boot ist Rauchen verboten. Das ist Teil der Philosophie, die hinter der Tour steckt und die Przemek in seiner Stiftung Jawisla den Menschen vermitteln will. Bei einer kurzen Pause auf einer Insel erzählt er, worum es ihm geht:

    "Ich glaube daran, dass man den Fluss nutzen kann, ohne ihn zu stören. Das ist ein Ziel dieser Tour. Zu zeigen, dass es möglich ist, die Weichsel zu bereisen, ihre touristischen Vorteile zu nutzen, ohne der Natur zu schaden. Wir haben während der Tour immer auf verschiedenen Inseln übernachtet, aber die ausgewählt, wo keine seltenen Vögel nisten, um sie nicht zu stören."

    Störche, Seeschwalben, Sandregenpfeifer und Flussuferläufer sind hier keine Seltenheit. In anderen Regionen Europas sind sie zum Teil schon nicht mehr zu finden.
    Przemek will mit seiner Stiftung Bildungsarbeit betreiben, Vorurteile über die Weichsel abbauen. Bei Jurek, einem 57-jährigen Informatiker aus Warschau, ist ihm das gelungen. Er ist tief beeindruckt:

    "Die Weichsel ist absolut nicht vorhersehbar. Die Natur ist wunderschön. Es scheint, als sei das hier absolut wildes Terrain. Häuser und Menschen sieht man ganz selten. Man kann den ganzen Tag mit dem Boot fahren und sieht niemanden. Und hier auf dieser Insel habe ich das Gefühl, als seien wir die ersten Menschen überhaupt."

    Und so fällt es Jurek umso schwerer, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Doch immerhin betrachtet er den Fluss vor seiner Haustür nun mit anderen Augen. Für ihn ist er ein wahrer Schatz.