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Von Wien nach Lwiw
21 Stunden auf der Schiene

Eine Eisenbahnfahrt von Wien nach Lemberg war bis zum Ersten Weltkrieg als Reise aus der Reichs- und Residenzhauptstadt in die ferne Provinz eine Angelegenheit von zwölf Stunden. Heute dauert die Fahrt ins mittlerweile westukrainische Lviv doppelt so lange: eine abenteuerliche Zeitreise in eine scheinbar andere Welt.

Von Stefan May | 03.05.2015
    Straße in der westukrainischen Stadt Lviv (Lemberg)
    Am 4. November 1861 kam der erste Zug von Wien im heute westukranischen Lviv (Lemberg) an. (dpa / picture alliance / Markiian Lyseiko)
    Es gehört zu den Eigenheiten der einst durch eine Monarchie verbundenen Staaten Österreich und Ungarn, dass die Züge zwischen den beiden Hauptstädten am Wiener Westbahnhof abfahren und am Budapester Ostbahnhof ankommen und umgekehrt. Ein Sinnbild für zwei Länder, die heute mit dem Rücken zueinander zu stehen scheinen.
    "Willkommen im ÖBB-Railjet. Unser Team im Restaurant erwartet Sie mit köstlichen Erfrischungen und betreut Sie gerne auch am Platz. Wir wünschen Ihnen eine gute Reise mit den ÖBB, Mitglied der Railteam-Allianz."
    Nach nicht ganz einer Stunde ist der Grenzbahnhof erreicht:
    Die leere Tickethalle des Wiener Westbahnhofs während des großen Streiks gegen die Rentenkürzungen 2003.
    Mehrmals täglich verbindet ein moderner Schnellzug den Westbahnhof Wien mit Budapest. (AP)
    "Hegyeshalom"
    Dass die beiden Nachbarstaaten nicht völlig harmonieren, erfährt ein junges Paar aus Fernost im Abteil gegenüber, sobald der ungarische Schaffner zur Kontrolle durch den Zug geht. Das in Österreich erworbene Ticket von Wien nach Budapest, das der junge Mann auf seinem Tablet vorweist, wird nicht anerkannt. "Only Print", sagt der Schaffner. Auch die herbeigeeilte Kollegin bleibt hart: 42 Euro pro Person oder an der nächsten Station aussteigen, beharrt sie ebenso wenig freundlich wie des Englischen mächtig.
    Das Paar wirkt erst überrascht, dann zunehmend verzweifelt. Es versucht zu diskutieren. Das sei doch derselbe Zug, man habe in Wien das Ticket nach Budapest gekauft. Vergeblich. Fahren Sie zurück und beschweren Sie sich in Wien, sagt der Schaffner nur. Ob man das Ticket ausdrucken könne? Nein.
    Schließlich kramt der konsternierte junge Mann eine Kreditkarte hervor.
    Eisenbahnkulturelle Bruchstelle Budapest
    Es ist unnötig zu erwähnen, dass in ungarischen Zügen nicht nur Ticket-App, sondern auch bargeldloser Zahlungsverkehr unbekannt ist. Nun zieht das Mädchen einen 500-Euro-Schein aus der Tasche. Wiederum Zurückweisung. Zuletzt erbarmt sich der Zugchef und lotst den jungen Mann zum Wechseln in den Speisewagen.
    Budapest ist die eisenbahnkulturelle Bruchstelle. Auf Gleis 7 wartet der D-Zug nach Moskau. D-Züge sind Kategorien einer untergegangenen Welt, meist mit Endpunkten im ehemaligen Osten. Hinten am D 16 hängen drei exotisch tannengrüne, russische Schlafwagen mit Längsripp-Muster und Vorhängen im unteren Fensterbereich.
    Eine üppige Dame in Negligé und Badelatschen trippelt aus ihrer Koje auf den Gang, Vorgeschmack jenes ungezwungenen Lebensgefühls, das ein westliches Vorurteil einstigen Sowjetmenschen anheftet. Der Schlafwagenschaffner sagt, um 22 Uhr 58 treffe der Zug in der ungarischen Grenzstation Zahony ein, um 3 Uhr in der ukrainischen Grenzstation Chop und verschwindet mit dem Ticket.
    Später kommt er noch einmal vorbei und wirft die Bettwäsche als verschweißtes Päckchen ins Abteil, nicht ohne nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es ihm morgen vor dem Aussteigen zurückzustellen sei. Um Mitternacht ist Zahony, der letzte Ort auf ungarischem Boden, erreicht.
    Forsches Klopfen. An jeder zweiten Tür steht ein blau uniformierter, begrenzt freundlicher Polizist mit "Rendörseg" in großen Lettern auf dem Rücken, hält ein Lesegerät in der Hand und verbreitet gespannte Atmosphäre.
    Kaum sind sie abgezogen, erscheinen Männer im grünen Drillich, sagen "Dober vecer" und fragen, ob etwas im Gepäck zu verzollen sei. Alsbald schiebt sich ein dicker Grenzer durch den Gang, sammelt die Pässe ein, indem er sie aufgeschlagen übereinander in seine linke Pranke drückt. Dann ruckt der Zug an, zwängt sich an morbiden Mauern und Hallen vorbei in die Umspuranlage.
    Umspuren der Waggons: von Normal- auf Breitspur
    Nebenan parken die Schlafwagen des D-Zugs Moskau-Bratislava. Manch Neugieriger zieht drüben mit spitzen Fingern die Vorhänge zur Seite und späht auf die Neuankömmlinge. Ein Arbeiter macht sich mit seinem Werkzeug unter einem Bett im ersten Abteil an den Achsen darunter zu schaffen.

    Die Waggons rasten an zwei Wagenhebern rechts und links der Gleise ein. Schatten ziehen draußen geschäftig vorbei, metallische Schläge treffen die Drehgestelle, ein Motor brummt, dann werden die Waggons unmerklich in die Höhe gestemmt. Stablampenstrahlen hasten kreuz und quer unter dem Wagenkasten, Männer in Schutzkleidung streichen prüfend in ihrem Schein unten dahin.
    Blick auf Bahngleise
    Auf dem Weg nach Lviv wanken die Waggons im Gleis. (picture alliance / Uwe Gerig)
    Die Drehgestelle werden auf den inneren Schienen unter dem Zug weggeschoben, von der anderen Seite auf den Außenschienen jene der russischen Breitspur herein gerollt und passgenau unter den Waggons angehalten. Wieder brummt der Motor, die Wagen setzen sanft auf. Wieder rasselt und poltert es metallisch. Hier werden die Welten erkennbar, die zwischen Bahn- und Flugverkehr liegen können. Nun trägt den Waggon ein Untersatz, der auch ein Vierteljahrhundert nach der Wende noch nie in den Westen gekommen ist und es auch künftig nie tun wird.
    Wieder klopft es. Medikamente, fragt ein ukrainischer Beamter. Den langen Grenzaufenthalt gestalten die diversen Kontrollen kurzweilig. Der Zug ruckt unfreundlich an. Eine Diesellok zieht wummernd den D-Zug zurück nach Zahony. Ein letztes Mal klopft es, es ist der Dicke mit den Pässen, brummt auf Deutsch "Auf Wiedersehen."
    Ziemlich pünktlich um 3 Uhr setzt sich mit einem durch den Zug fortsetzenden Klirren dieser in Bewegung. Die Schienenstöße klacken und sind so groß, dass man mitunter fürchtet, die Waggons könnten am Ende jeder Schiene in ein großes Loch fallen.
    Das Auge des Erwachenden fällt auf ein ukrainisches Klischee: unendliche Felder im Morgenlicht. Ein anderer Schaffner klopft, sagt "25 Minuten bis Lviv" und will das Bettzeug zurück. In der Halle des Bahnhofs, eines noblen Gründerzeitbaus, hängt eine Tafel:
    "Am 4. November 1861 ist der erste Zug von Wien nach Lviv gekommen. Das hat den Anfang des Bahnverkehrs in heutzutagige Ukraine gemacht."
    ...ist in ungelenkem Deutsch darauf zu lesen. Zu Monarchie-Zeiten hat man halb so lange wie heute aus der Hauptstadt der k. und k.-Monarchie ins ferne Lemberg benötigt. Diesmal waren es 21 Stunden.