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Von Zottelschratzen und Kleinlingen

Der bekannte Schauspieler Boris Aljinovic erweist sich als Ausnahmetalent für Kinderhörbücher. Er bezaubert mit seiner stimmlichen Variabilität. Alle drei vorgestellten Hörbücher weisen außerdem eine literarische Qualität auf, die auch für Erwachsene das Zuhören zur Freude machen.

Von Florian Felix Weyh | 20.07.2013
    "Jetzt ist keine Zeit für Schauspielerei!"

    Wirklich nicht. Es geht um ernste Dinge.

    "Ich hab dich aus dem Wasser gezogen, vergiss das nicht, ohne mich wärst du jetzt mausetot." - "Hm. Schön", sagte Hörbe und setzte sich auf. "Ich bin Hörbe. Hörbe mit dem großen Hut. Und du?"

    Ja wer ist das, der da so seltsames Gequietsche und Stimmgequetsche hervorbringt?

    "Rate mal! Wetten, dass du’s nicht rauskriegst? Ich bin Zwottel, der Zottelschratz mit dem Zottelpelz und dem Zi-Za-Zottelschwanz. Bist du auch ein Waldschratz?"

    Ein Waldschratz? Nein, Hörbe ist so was wie ein Wichtel, verwechselbar auch mit Zwergen, Gnomen, Kobolden oder Trollen, aber niemals derartig zu bezeich¬nen, da haben die Hutzelmänner ihre eigene Ehre. Sie sind, wer sie sind, und niemand anderes.

    "Der Zottelschratz patschte sich auf den Bauch vor Lachen. "Du bist kein Brutzel-, du bist kein Mutzel, du bist ein Wutzelmann!" - "Nein, ein Hutzelmann!" - "Ja! Ein Kri-, Kra-, Krutzelmann!"

    Also wirklich! Dieser kichernde Zottelschratz kann einem ganz schön auf die Nerven gehen, jedenfalls als Reisegefährte.

    "Nichts für ungut! Ich bin nämlich der geborene Spaßmacher, musst du wissen! Unsereins albert gern, unsereins kalbert gern, unsereins treibt am liebsten Unsinn!"

    Das tut er wahrlich, drei CDs lang, bis die ganzen Geschichten von Hörbe mit dem großen Hut erzählt sind. Sie stammen aus der Feder von Otfried Preußler, gehören aber zum weniger bekannten Teil seines literarischen Werks und werden von Boris Aljinovic auf mitreißende Weise interpretiert.

    "Das hätte ich nicht besser ausdrücken können."

    Genau! Und wie lautete demzufolge das Prädikat?

    "Exzellent!"

    Auch wenn es aus dem Mund des Vortragenden selbst kommt, lassen wir es vorbehaltlos gelten. Es ist ja kein Eigenlob, sondern im Text auf etwas ganz anderes gemünzt. Der als Berliner Tatort-Kommissar bekannte Schauspieler Boris Aljinovic erweist sich als Ausnahmetalent für Kinderhörbücher. Er lebt gleichsam in den Geschichten, die er vorträgt, und seine Wandlungsfähigkeit verblüfft immer wieder aufs Neue. Jenseits der unterschied¬lichen Autorenhand¬schriften entsteht eine ganz eigene Kategorie. Man könnte sie aljinovicisierbare Texte nennen:

    "Ach, du hast Drachilein gefunden!", sagte die Prinzessin zu Munkel und gähnte. "Mir ist langweilig. Er spielt nicht! Mit ‚Hässlichem Ding’ macht es bestimmt mehr Spaß. Aber es war unartig. Es hat nichts zu Abend gegessen." Sie knallte Emily auf einen Puppenstuhl. Emily rieb sich die Schulter. "Grober Klotz!", sagte sie und weinte fast. "Was hat sie gesagt?", fragte Rotzmops. "Rohes Obst", sagte Munkel. "Ich glaube, sie möchte ein bisschen Obst." Rotzmops nahm ein Stück Geburtstagskuchen aus ihrer Tasche und leckte die Fusseln davon ab. Dann legte sie es auf den Tisch. "Wir haben kein Obst", sagte sie. "Und sei nicht so pingelig! Wenn du das nicht isst, steck ich dich hungrig ins Bett!"

    Das ist nicht mehr Otfried Preußlers Waldzwergenreich, jene beschauliche, naturverbundene Welt, die nach Preiselbeermarmeladeeinkochen und Zottelschratzwitzen in einer friedlichen Hutzelmannstimmen-Polyfonie ausklingt ..., nein, das ist Janet Foxleys "Munkel Trogg", eine deutlicher dem Fantasy- und Abenteuergenre zugehörige Geschichte. Die Welt der Riesen in einem erloschenen Vulkan trifft auf die Welt der Menschen, genannt "Kleinlinge", und dazwischen sitzt Munkel Trogg als schmächtigster Riese aller Zeiten. Bei seiner Identitätssuche entdeckt er Verwandtschaftsgefühle zu den Menschen, was seine familiäre Lage nicht gerade einfacher macht. Sein jüngerer Bruder heißt Raubautz und benimmt sich auch so.

    "Ich finde, wir sollten Kleinlinge jagen." – "Raubautz!", rief Ma. "Lass bloß niemanden hören, was du da sagst", murmelte Pa. "Sonst wirst du ins Verlies geworfen." – "Ich mein ja nicht, wir sollten sie zu jeder Mahlzeit essen", sagte Raubautz. "Jedenfalls nicht so viele, dass sie es merken würden. Nur einmal im Jahr, zum Geburtstag des Königs."

    Man kann sich vorstellen, dass es viele komplizierte Verwicklungen gibt, bis Munkel Trogg in der Gemeinschaft der Riesen seinen Platz gefunden hat. Trogg ist klein, Hutzelmänner sind klein und Boris Aljinovic ... nun ja, man weiß es aus dem Fernsehen, der Schauspieler ragt auch nicht gerade wie ein Leuchtturm aus einer Menge hervor. Da würde es erstaunen, wenn seine dritte Hörbuchproduktion nicht auch dieses Thema streifte.

    "Das gefährliche Leben der Winzlinge."

    ... heißt ein Kapitel aus Melanie von Bismarcks Gutenachtgeschichtensammlung "Als die Hasen noch fliegen konnten".

    "Früher gab es klitzekleine Menschen. Die waren so klein, dass sie auf einem Teelöffel Platz hatten. Tante Elsie hatte mehrere Familien bei sich auf der Fensterbank im Wohnzimmer wohnen. Da standen ein paar Blumentöpfe, und in den Blumentöpfen hausten die Winzlinge in winzigen Häusern."

    ... erzählt der Vater seiner Tochter Mirle, und das Muster seiner Gutenachtgeschichten verläuft stets identisch: Mirle berichtet etwas aus der Schule, und der Vater relativiert ihr neues Wissen mit dem Satz:

    "Das war nicht immer so."

    Dann folgt eine fantasievolle Verrücktheit aus jenen Zeiten, als die Weltbestimmer noch alles nicht so eingerichtet hatten, wie wir es heute kennen. Der frühere Zustand - fliegende Hasen, grün gefärbte Menschen oder singende Eichhörnchen ...

    "Maiskörnchen / Maiskörnchen / Ich lieb dich so, mein Eichhörnchen."

    ... erwies sich aber irgendwie dann doch als unpraktisch, weswegen es manchmal sogar zu Aufständen kam, etwa bei den Mini-Menschen in Tante Elsies Blumentopf.

    "Gleiche Größe für alle! Gleiche Größe für alle!" Immer mehr kleine Menschen gingen aufs Fensterbrett und demonstrierten. (...) "Gleiche Größe für alle! Gleiche Größe für alle!"

    Man hört es, selbst in diesen kurzen Fragmenten: Boris Aljinovic bezaubert mit seiner stimmlichen Variabilität. Und was am schönsten und für lange Ferienautofahrten überaus nützlich ist: Alle drei vorgestellten Hörbücher weisen eine literarische Qualität auf, die auch Erwachsenen das Zuhören zur Freude machen.


    Besprochene Hörbücher:

    Melanie von Bismarck, Axel Scheffler "Als die Hasen noch fliegen konnten"
    Argon, 2 CDs

    Janet Foxley "Munkel Trogg"
    DAV, 3 CDs

    Otfried Preußler "Das große Hörbe-Hörbuch"
    DAV, 3 CDs