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Vor 100 Jahren
Der Übersetzer Juri Elperin geboren

Von Aitmatow bis Rybakow - Juri Elperin war einer der bedeutendsten Übersetzer der Sowjetunion. Aufgewachsen in der Schweiz, Deutschland und Frankreich floh er im Zweiten Weltkrieg nach Russland, wo er russische Literatur für sich entdeckte. Er übersetzte mehr als hundert Werke und machte sich als Essayist und Übersetzungstheoretiker einen Namen.

Von Jens Ebert | 24.06.2017
    Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bedankt sich am 27.01.2014 in Berlin mit Handschlag für die Auszeichnung, die er zuvor vom Internationalen Auschwitz-Komitee IAK verliehen bekommen hat, bei IAK-Mitglied und Zeitzeuge Juri Elperin.
    Der russisch-jüdische Übersetzer Juri Elperin verleiht 2014 die Auszeichnung des Internationalen Auschwitz-Komitees an Sigmar Gabriel. (dpa / Stephanie Pilick)
    "Und wieder krank ich an der sanften Trauer,
    beim Duft des Hafers, den der Wind herüberträgt,
    Seh ich den Glockenturm und seine weiß getünchte Mauer
    hebt sich die Hand, die wie von selbst das Kreuzeszeichen schlägt."
    Juri Elperin ist über 90, als er seinen geliebten Lyriker Sergej Jessenin zitiert. Da kann er auf eine jahrzehntelange erfolgreiche Tätigkeit als literarischer Übersetzer zurückblicken und auf ein Leben, das selbst einem Roman gleicht.
    Geboren mitten im Ersten Weltkrieg, am 24. Juni 1917 "in Davos in der Schweiz im Hochgebirge. Meine Eltern waren schon sehr lange aus Russland ausgewandert. Die Großeltern waren begütert genug, um den Aufenthalt meines Vaters und meiner Mutter zu gewährleisten in Davos. Denn mein Vater hatte ein Lungenleiden. Und wir haben dann dort gelebt bis zur russischen Revolution, als die Mittel in Russland ausgingen, die Großeltern enteignet wurden, die ich leider nie gesehen habe."
    Sprache als Instrument der kulturellen Anpassung
    1920 fand der Vater eine Anstellung als Druckereidirektor beim Verleger Paul Cassirer in Berlin. Für Juri Elperin hieß das, eine neue Sprache zu lernen, denn mit seinem Schwytzerdütsch war er ein Außenseiter. Begierig nahm er die neue Kultur auf.
    "Die Weimarer Republik: aufgeschlossen, progressiv, demokratisch. Aber die Schule war preußisch streng."
    1933 endete diese Zeit. Die jüdischen Elperins besaßen seit 1918 einen sowjetischen Pass, um nicht staatenlos zu sein. Vom NS-Regime ausgewiesen, flüchteten sie nach Paris. Wieder eine neue Sprache, neue kulturelle Eindrücke.
    Aber: "Für die Franzosen war ich 'le boche', der Deutsche, und das schuf einen gewaltigen Abstand zwischen mir und den Schülern."
    Kriegsdienst statt Doktorarbeit
    1935 wurde die französische Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr verlängert. Der einzige Ausweg führte nach Moskau. Juri lernte nun Russisch, studierte Germanistik an der Fremdsprachenhochschule. Von der russischen Literatur, die ihm im Elternhaus, an der Hochschule und der Öffentlichkeit begegnete, war er wegen ihrer Tiefe und poetischen Kraft angetan, vom sowjetischen Alltag weniger.
    1941 hätte er an seiner Hochschule mit einer Doktorarbeit, der "Aspirantur", beginnen können "aber ich hatte mich entschieden, an die Front zu gehen, um gegen Hitler zu kämpfen. Ich hab mich freiwillig gemeldet und wurde aufgenommen in die 2. Infanteriedivision."
    Dort verhörte er deutsche Kriegsgefangene, nach der Schlacht um Stalingrad 1943 auch viele hochrangige Offiziere und Generale.
    "Wir haben uns nach dem Genfer Abkommen verhalten. Für mich persönlich waren die Gefangenen Mitmenschen, mit denen man Verständnis hat. Ich meine, damals wusste ich noch nichts von Auschwitz."
    Schneller Erfolg als Übersetzer
    Nach dem Krieg wurde Elperin als Jude und Westeuropäer aus der Roten Armee entlassen. Auch an der Hochschule durfte er nicht mehr arbeiten. Er hielt sich mit Deutschstunden über Wasser. Jetzt entdeckte er sein Talent als Übersetzer, als Mittler zwischen den Kulturen.
    "Dann wurde man in Deutschland auf mich aufmerksam, in der Bundesrepublik, in der DDR und ich bekam auch Direktaufträge."
    Die Liste der Übertragungen und Nachdichtungen wurde immer länger, die der Autoren prominenter, reichte von Tschingis Aitmatow bis Anatoli Rybakow. Misstrauisch beobachtete ihn der KGB, da er mit Dissidenten verkehrte, mit Boris Pasternak und Bulat Okudschawa befreundet war.
    "Ich war in Russland immer der Außenseiter, ich war dort immer der Kosmopolit und im Grunde genommen der Unerwünschte."
    Berlin als Heimat
    Im Jahr 2000 siedelte Elperin ein letztes Mal um, diesmal freiwillig in die Stadt, die er stets als Heimat empfand: Berlin.
    Lesern und Verlegern wurde er, der mehr als 100 Werke übersetzte, nun ein Begriff. Auf Initiative der Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck wurde er 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Kurz darauf, am 20. September 2015 starb Juri Elperin.
    Für Marieluise Beck war eine außergewöhnliche Persönlichkeit:
    "Für mich das Erstaunlichste: ohne jeglichen Anflug von Bitterkeit - nichts, kein Wort der Klage."