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Vor 100 Jahren
Ein Prototyp des sozialen Wohnungsbaus entsteht

Sonne, Licht und Luft: Im Metzleinstalerhof in Wien standen Arbeiterfamilien erstmals preiswerte, aber auch hygienische und menschenwürdige Wohnungen zur Verfügung. Vor 100 Jahren begann die Stadt mit dem ehrgeizigen Wohungsbauprogramm - Architekt Hubert Gessner schuf dabei einen Prototyp.

Von Jochen Stöckmann | 03.01.2019
    Der Metzleinstaler Hof (der erste von Robert Kalesa und Hubert Gessner erbaute Gemeindebau Wiens) am Margartengürtel um 1922.
    Preiswerter und angemessener Wohnraum für alle - Ziel der Wiener Politik schon 1896 (picture alliance / Imagno)
    Preiswerter und angemessener Wohnraum für alle, das war das erklärte Ziel der österreichischen Sozialdemokratie - bereits 1896. Noch vor der Jahrhundertwende forderte die Arbeiterpartei.
    "Die Kommune hat ihr Grundeigentum durch Erwerbung noch unverbauter Grundstücke in großem Maßstabe zu vermehren und darauf systematisch Häuser mit billigen Wohnungen zu errichten."
    Gemeindebau gegen Wohnungsmangel
    Grund und Boden in der Hand der Gemeinde, das soll private Spekulation und Mietwucher verhindern. In Wien dauerte es mehr als zwei Jahrzehnte, bis 1919 die brennenden sozialen Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit diese Lösung der Wohnungsfrage erzwangen.
    "Die Männer, aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen, haben keine eigene Wohnung gehabt, haben begonnen, illegal den Wienerwald abzuholzen und sich kleine Siedlungen hinzustellen. Und dann hat die Gemeinde Wien, um das Ganze ein bisschen in geordnete Bahnen zu lenken, das Siedlungsamt gegründet unter der Leitung des renommierten Architekten Adolf Loos."
    Prototyp mit begrüntem Innenhof
    Lilli Bauer führt durch die Dauerausstellung über "Das Rote Wien": So wird heute das urbane Ensemble mit fast 65.000 Wohnungen in mehr als 380 kommunalen Gebäuden genannt, die zwischen 1919 und 1933 errichtet wurden. Als erster typischer "Gemeindebau" gilt der Metzleinstalerhof, ursprünglich von einem privaten Bauherrn als Wohnanlage mit fünf freistehenden Einzelgebäuden geplant. Als dann mit Beginn des Jahres 1919 die Stadt Wien das im Krieg unterbrochene Bauprojekt übernahm, wurden die fünf Parzellen zusammengefasst zu einem einzigen Gebäudeblock. Die endgültige Ausführung übertrug die Kommune einem Architekten, der mit den Wohnreform-Ideen der Sozialdemokratie bestens vertraut war.
    "Hubert Gessner erhält dann den Auftrag, diesen Bau zu erweitern. Und er löst das, indem er eine geschlossene Hofanlage umsetzt, und erstmals die Eingänge zu den Stiegen vom Hof aus zugänglich sind – damit begründet Hubert Gessner für den Gemeindebau oder für die Gemeindebauwohnung so etwas wie einen Prototypen."
    Nach diesem Muster des sogenannten Superblock wurde auch der heute weithin bekannte Karl-Marx-Hof gebaut: Bewohner und Besucher gelangen durch ein monumentales Portal in lichte und begrünte Innenhöfe. Erst von dort aus sind die einzelnen Treppenhäuser zu betreten.
    "Ganz wichtig auch eben das eigene WC in der Wohnung, als hygienischer Fortschritt. Fließend Wasser in der Wohnung – es waren unglaubliche Fortschritte."
    Reges Gemeinschaftsleben
    Alle Wohnungen haben ähnliche Grundrisse, niemand tut sich hervor wie etwa in der Eigenheim- oder Reihenhaussiedlung. Und Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister Karl Seitz konstatiert 1924:
    "Jetzt kommt die neue Bauperiode, in der wir nicht mehr kleine Einzelhäuser bauen, sondern große Anlagen mit Gemeinschaftswohnungen. Wir wollen unsere Jugend nicht zu Individualisten, zu Einzelgängern erziehen, sie sollen in Geselligkeit aufwachsen und zu Gemeinschaftsmenschen erzogen werden."
    Wer hinter die heute ein wenig abweisend wirkenden Außenfassaden der Wohnhöfe des "Roten Wien" schaut, der erkennt die Spuren des regen Gemeinschaftslebens in den zwanziger Jahren. Vor allem in der von Lilli Bauer im sogenannten Waschsalon des Karl-Marx-Hofes eingerichteten Ausstellung.
    "Der kommunale Wohnbau war eigentlich so etwas wie das Werkzeug zur Schaffung eines neuen Menschen. Da fallen schon die Arbeiterbüchereien drunter, Werkstätten für Jugendliche, es gab Ateliers für Künstler. Man hat versucht, alle Einrichtungen unterzubringen, die es braucht, um ein besseres Leben zu führen. Alles, was mit Hygiene und Körperkultur und mit Bildung zusammenhängt."
    Sonne, Licht und Luft
    Unter Bildung verstand Hubert Gessner, der Architekt des Metzleinstalerhofes, mehr als nur Schulunterricht. Der Architekturhistoriker Jan Tabor fasste sein Lebenswerk zusammen mit den Worten:
    "Er wollte durch seine Baukunst dem proletarischen Menschen Zuversicht, Selbstachtung und Behaglichkeit vermitteln. Gefühle also. Gefühle, die das Proletariat vorher kaum kannte. Das Recht auf Schönheit war für ihn ein Grundrecht des Menschen, nicht das Vorrecht des Reichtums."
    Für Sonne, Licht und Luft sorgen geradlinig auskragende Erker – aber auch verschnörkelte Majolika-Keramiken mit Füllhornmotiven, Rosetten und Rankenwerken charakterisieren Gessners Wohnhöfe. Die Ornamente sind mehr als nur Beiwerk, sie krönen ein bis heute erfolgreiches Reformprojekt.