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Vor 100 Jahren geboren
Boris Vian: Jazzkeller-Prinz, Skandalautor, Pazifist

Er war Ingenieur, Musiker, schrieb Chansons und Romane, die Skandale auslösten: Der Franzose Boris Vian war ein Multitalent, das wohlbehütet zwischen exotischen Pflanzen und paradiesischen Sinneseindrücken aufwuchs. Mit nur 39 Jahren starb er bei der Filmvorführung seines erfolgreichsten Buches.

Von Karl Lippegaus | 10.03.2020
    Der französische Schriftsteller Boris Vian sitzt in seiner Pariser Wohnung und schreibt auf ein Blatt Papier
    Der französische Schriftsteller Boris Vian in einer Aufnahme vom 23.06.1959 (picture alliance / akg / Paul Almasy)
    Ein "touche-à-tout" ist im Französischen ein Kind, das alles anfassen will. Aus purer Neugier und um sich eine Welt zu erschaffen. Boris Vian bewahrt sich sein Leben lang seinen Sinn fürs Unerforschte. Was ihn beflügelt, sind der Sound aus Armstrongs Trompete und die Bigband Duke Ellingtons.
    Mit sieben Jahren hat er alle Bücher von Maupassant gelesen und bringt sich selbst das Trompete spielen bei. In zwölf Tagen schreibt er einen Krimi, der einen Skandal auslöst. Sein bekanntester Roman, "Der Schaum der Tage", wurde bereits viermal verfilmt.
    Nicole Bertolt ist Herausgeberin seines in Kürze erscheinenden Briefwechsels.
    "Dabei entdeckt man einen Menschen, der viele Dinge gleichzeitig tut, extrem schnell arbeitet. Er hat eine Wahrnehmung der Dinge, der Menschen und der Elemente, die stets über das bloß Sichtbare hinausreicht."
    Mit 22 Jahren ist er Ingenieur, schreibt Romane, wird später Schauspieler und Sänger, Verfasser von 600 Chansons und Musikproduzent. Boris Vian ist Erfinder, konstruiert einen Roboter und tut vor allem eines: sich selbst erfinden.
    "Die Wahrheit liegt nicht bei denen, die in der Mehrzahl sind. Wenn man als Künstler etwas anderes machen will – das Problem des Künstlers ist nicht, etwas zu machen, sondern es anders zu machen –, dann muss einem klar sein, dass einen nicht alle verstehen werden. Was ihm gefällt, muss er tun, im Moment des Schaffens."
    Der Vater: ein wohlhabender Frühpensionär
    Auf halbem Weg zwischen Paris und Versailles liegt Ville d'Avray, wo einst die Edelmänner ihre Mätressen einquartierten. Hier wird Boris Vian am 10. März 1920 geboren, mit zwei Brüdern und einer Schwester wächst er auf, umgeben von exotischen Pflanzen, dem Parc Saint-Cloud und paradiesischen Sinneseindrücken, die sein Werk durchwehen: Exotik und Eros.
    Der Vater Paul Vian führt ein sorgenfreies Leben als Frühpensionär und widmet sich ganztägig der fünfköpfigen Familie. Vielleicht, denkt Boris später, habe ich es zu gut gehabt als Kind, verwöhnt von der Mutter. Am Plattenspieler schlägt Boris' Herz für den Jazz. 1944 wird der Vater von Einbrechern erschossen. Nichts ist mehr so wie vordem.
    Schon während des Zweiten Weltkriegs organisiert Boris Vian sogenannte Surprise-Partys, bisweilen als harmloser Tanztee getarnt, wo die von den deutschen Besatzern offiziell als "entartet" verhöhnte Musik läuft: der Jazz.
    Im Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Prés wird Boris Vian berühmt, mit seiner Trompete, ein Prinz der Jazzkeller. Im "Tabou" und dem Club "St. Germain" sieht man ihn mit Miles Davis und dessen Freundin Juliette Gréco.
    "Das 'Tabou' liegt in einem langgezogenen Keller, einer Art Tunnel, wo sich außergewöhnliche Dinge abspielen. Es gibt viele junge Leute hier und Besucher aus allen Teilen der Welt. Eigentlich ist es ein Tanzlokal für Studenten, wo man sehr guten Jazz macht."
    Herzkrankheit zwingt ihn zur Aufgabe seines Trompetenspiels
    Einen literarischen Coup landet Boris Vian 1946. In weniger als zwei Wochen schreibt er, der nie in den USA war, unter dem Pseudonym Vernon Sullivan einen amerikanischen Krimi, "Ich werde auf eure Gräber spucken". Ein halbes Dutzend Romane, die weitaus weniger gelesen werden, entstehen danach. Seine Wortspiele sind wie Science-Fiction-Jazz. Auf ärztlichen Rat muss der herzkranke Vian 1948 das Trompete spielen beenden und wird ein Chronist des Jazz.
    "Jeder Puster in meine Trompete verkürzt mein Leben."
    Boris Vian ist Pazifist und Anti-Rassist, Anti-Bourgeois und Anarchist. Plötzlich steht Boris steif vor Lampenfieber als Sänger auf einer kleinen Chansonbühne. "Le Déserteur", sein Aufruf zur Fahnenflucht, ist eine Warnung vor dem Algerienkrieg und wird 1955 verboten.
    Während einer Voraufführung der von ihm nicht genehmigten Verfilmung seines erfolgreichsten Buches stirbt Boris Vian am 23. Juni 1959 mit 39 Jahren.