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Vor 100 Jahren geboren
Der Schriftsteller Peter Weiss

Kaum ein deutscher Autor nach 1945 hat sich so entschieden revolutionär geäußert wie Peter Weiss. Begonnen hatte er jedoch mit individualistischen, seine Einsamkeit umkreisenden Prosatexten. Sein Weg ins politische Engagement war einer der spannendsten Vorgänge der deutschen Nachkriegsliteratur. Vor 100 Jahren wurde er als Sohn eines jüdischen Kaufmanns nahe Berlin geboren.

Von Christian Linder | 08.11.2016
    Schwarz-Weiß-Fotografie von dem Schriftsteller Peter Weiss. Er trägt einen Anzug mit Krawatte.
    Peter Weiss war Mitglied der Gruppe 47, die die deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg erneuern wollte. (picture-alliance / dpa)
    Manch spektakulären Leseauftritt hatten die in der Gruppe 47 versammelten Autoren schon erlebt, aber als Peter Weiss auf der Herbsttagung 1963 zur Trommel griff, waren alle zunächst sehr verblüfft – zumal bei der folgenden Ansprache:
    "Als Direktor der Heilanstalt Charenton heiße ich Sie willkommen in diesem Salon"
    Peter Weiss rezitierte und sang aus seinem Theaterstück "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade", nach der Uraufführung 1964 nur noch kurz "Marat/Sade" genannt.
    Vernunft des Irrsinns, Poesie und Revolution
    Weiss zeichnete darin ein sadistisches Welttheater, in dem die Prinzipien der Vernunft und des Irrsinns, der Poesie und der Revolution gegeneinander gestellt werden – und das Ganze als Szene im Irrenhaus. Hier muss de Sade auf Befehl Napoleons die letzten Jahre seines Lebens verbringen. Der Direktor der Anstalt ist jedoch ein fortschrittlicher Mann und lädt die Insassen ein, sich eigene Theaterstücke auszudenken und aufzuführen. Eine solche Aufführung hatte Weiss erfunden und darin seine eigene Lebensproblematik versteckt:
    "Was wir tun ist nur ein Traumbild/ von dem was wir tun wollen/ und nie sind andere Wahrheiten zu finden/ als die veränderlichen Wahrheiten der eigenen/ Erfahrungen."
    Vor dem Theaterstück "Marat/Sade" waren avantgardistische Prosatexte wie "Das Duell" oder "Der Schatten des Körpers des Kutschers" erschienen, eine exhibitionistische Literatur voller blutiger Aggressionsbilder, deren Darstellung Weiss helfen sollte, die Fesseln seiner als Geschwür erlebten Kindheit zu sprengen:
    "Im Haus herrschte das Dumpfe, Eingeschlossene, und meine Sinne waren gefangen"
    Abschied von den inneren Dämonen
    Die Klage über das Erlebnis einer seelischen Unterernährung durchzieht das 1961 erschienene und im Klartext der Autobiographie geschriebene Buch "Abschied von den Eltern". Doch nachdem Weiss sich in seinem Frühwerk gewaltsam emotionale Gewissheiten verschafft und noch einmal einige in der Kindheit gewachsene innere Dämonen auf die Bühne gestellt hatte, verabschiedete er sich von seinen extrem individualistischen Schreibmotiven. Wendepunkt war 1965 ein Besuch im Konzentrationslager Auschwitz.
    Weiss, am 8. November 1916 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Nowawes bei Berlin geboren, war aus Schweden angereist, wohin er auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten gelangt und nach 1945 wohnen geblieben war. In Auschwitz erkannte er den auch für ihn von den Nazis vorgesehenen Schicksalsort:
    "Ich bin hierhin gekommen aus freiem Willen, ich bin aus keinem Zug geladen worden, ich bin nicht mit Knüppeln in dieses Gelände getrieben worden, ich komme 20 Jahre zu spät hierher."
    Vor diesem Besuch stand die Beobachtung des Frankfurter Auschwitzprozesses, aus dessen Protokollen Weiss das 1966 uraufgeführte Dokumentarstück "Die Ermittlung" schrieb. Wenig später begründete er vor Studenten der amerikanischen Princeton University seine Wende zum Engagement:
    "Bei meinen frühesten Versuchen zu schreiben, dachte ich nur an meine eigene Existenz. Statt des Protestes hatte ich meine Melancholie und mein Unglück. Aber ich kann jetzt nicht länger an einen unabhängigen Umkreis der Kunst glauben, selbst wenn ich wieder ganz von vorne anfangen müsste."
    Die Ästhetik des Widerstands
    Wie ein Neuanfang las sich der von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre erschienene dreibändige Roman "Die Ästhetik des Widerstands". Drei junge Kommunisten im Berlin der Nazi-Zeit stehen vor dem Pergamon-Altar und sind bis in ihre Träume hinein mitgerissen:
    "Rings um uns hoben sich die Leiber aus Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, immer in den Gebärden des Kampfes"
    Einer der drei Kommunisten ist der Ich-Erzähler, der den Untergrund in Berlin verlässt und in Spanien am Bürgerkrieg teilnimmt, anschließend durch Europa flüchtet und sich in
    Gesprächen mit Zeitgenossen das Wissen über die Hintergründe der Weltgeschichte im
    20. Jahrhundert erarbeitet.
    Zwar nur eine Wunschbiographie und als Konzept von einer weit reichenden Abstraktion, war "Die Ästhetik des Widerstands" gleichwohl noch einmal ein Zeugnis von dem Antrieb, der Peter Weiss’ Schreiben von den Anfängen bis zu seinem Tod am 10. Mai 1982 begleitete und den er im letzten Satz des Buches "Abschied von den Eltern" benannt hatte:
    "Ich war auf der Suche nach einem eigenen Leben."