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Vor 100 Jahren geboren
Doris Lessing - visionäre Schriftstellerin

Mit ihrem "Goldenen Notizbuch" erlangte die Schriftstellerin Doris Lessing Weltruhm, wurde 2007 im Alter von 88 Jahren sogar mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Ihre Kindheit als Tochter eines ehemaligen britischen Offiziers in Afrika war jedoch alles andere als glücklich.

Von Christian Linder | 22.10.2019
    Die Schriftstellerin Doris Lessing schaut lächelend in die Kamera.
    Glaubte nicht an das britische Empire - und schrieb sich ihren Zorn über koloniale Verhältnisse von der Seele: Doris Lessing (picture alliance / Martin Cleaver)
    Die späte Ehrung im Jahr 2007 durch den Literatur-Nobelpreis nahm die knapp 88-jährige Doris Lessing gelassen auf, denn sie wusste, wovon sie einmal ausgegangen war:
    "Schriftsteller werden geboren, nicht gemacht."
    Tatsächlich hat Doris Lessing kaum eine Zeile geschrieben, in der sich nicht ihre Existenz gespiegelt hat. "Under my skin", "Unter meiner Haut" nannte sie den 1994 erschienenen ersten Band ihrer die Jahre bis 1949 beschreibenden Autobiografie. Was war ihr unter die Haut gegangen?
    Kindheit in Rhodesien
    Geboren wurde sie als Doris May Tayler am 22. Oktober 1919 in Kermanschah im heutigen Iran als Tochter eines ehemaligen britischen Offiziers, der nach Ende des Ersten Weltkriegs in Teheran als Bankmanager arbeitete. Später übersiedelte die Familie mit der fünfjährigen Tochter nach Rhodesien, um dort eine Mais-Farm zu bewirtschaften, in der Hoffnung auf Glück, noch mehr Geld und vielleicht sogar Gold.
    In diesen Jahren regte sich in dem jungen Mädchen zum ersten Mal ein später nie vergessener fundamentaler Widerstand:
    "Es ist doch auch schön, wenn Dinge, die eben noch unverrückbar und starr erschienen, nach einer Generation oder zwei völlig verschwunden sind. Meine Eltern glaubten an das britische Großreich wie an eine Religion. Heute lacht man darüber, aber die beiden glaubten wirklich an das Empire als eine starke Kraft für das Gute, von Gott gegeben und geleitet, etwas Wunderbares. Damit wurde ich großgezogen."
    Zwei gescheiterte Ehen
    Die Wut über die sowohl innerfamiliären wie politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse hat Doris Lessing später in ihre Bücher hinein geschrieben. Material besaß sie genug: Neben dem Erlebnis der emotionellen Unterernährung innerhalb ihrer Familie, die niederziehenden Erfahrungen der abgebrochenen Schulzeit in einer Klosterschule und der Girls High School in Salisbury, später der Jahre als Kindermädchen, Telefonistin und Schreibkraft in einem Anwaltsbüro. Auch ihre beiden Ehen scheiterten. In der zweiten mit dem deutschen, vor den Nationalsozialisten nach Afrika geflohenen Kommunisten Gottfried Lessing ließ sie sich zwar von dessen politischen Überzeugungen anregen, aber seine äußere Lebensführung stieß sie ab:
    "Zehn Paar vorbildlich zusammengerollte Socken im Kleiderschrank, nach Farben geordnet und akkurat nebeneinander. In der breiten Schublade, keinen Millimeter von ihrem Stammplatz weggerückt, drei Stapel mit gebügelten Hemden, weiß, farbig und gestreift."
    Beobachtet vom Geheimdienst
    So machte sich Doris Lessing auf und davon und kam 1949 im Alter von 30 Jahren mit ihrem zweijährigen Sohn Peter in London an, in ihrem kargen Gepäck immerhin einige Manuskripte, die davon zeugten, wie ihr die frühen Erfahrungen wirklich unter die Haut gegangen waren. Ihrem 1950 in England erschienenen und gleich erfolgreichen ersten Roman "Afrikanische Tragödie" folgten schnell weitere Romane und Erzählungsbände wie "Der Zauber ist unverkäuflich".
    Neben der sich fortspinnenden Modellierung ihrer afrikanischen Lebensgeschichte interessierte sie sich zugleich für die aktuellen Zeitläufte im Nachkriegs-Europa. Aufgrund ihrer weiterhin gepflegten Sympathien für den Kommunismus geriet sie zwar unter die Beobachtung des englischen Geheimdienstes MI5, der sie sogar noch observierte, nachdem sie sich 1956 anlässlich des Einmarschs der sowjetischen Truppen in Ungarn vom Kommunismus distanziert hatte. Geschützt war Doris Lessing allerdings durch ihren inzwischen gewachsenen Ruhm, der 1962 durch Erscheinen ihres bald nicht nur für die Frauen-Bewegung zum Kultbuch avancierten Romans "Das goldene Notizbuch" zum Weltruhm wurde.
    "Die zweite Zeile im ‚Goldenen Notizbuch‘ lautet: Alles löst sich auf. Darum geht es in dem Buch. Romane sind heute oft Gedanken-Experimente."
    "Warum machen wir Dinge, die uns schaden?"
    Solche Gedanken-Experimente brachten später in Büchern wie "Anweisung für einen Abstieg zur Hölle" auch inhaltlich phantastische Szenarien hervor, die man als "Inner-Space-Fiction", in einem "Weltinnenraum" spielende Geschichten gelesen hat. Ihre Botschaft: Dass die Veränderbarkeit der Welt zwar ihr Zweck sei, gewisse politische und technische Entwicklungen sich aber auch ruinös auswirken könnten. Das blieb für Doris Lessing bis zu ihrem Tod im November 2013 im Alter von 94 Jahren eine Schlüsselfrage:
    "Warum machen wir immer weiter Dinge, von denen wir wissen, dass sie uns, vielleicht unwiderruflich, schaden werden? Was ist mit uns los?"