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Vor 125 Jahren: Einführung der Mitteleuropäischen Zeit
Das Ende der kleinteiligen Zeitzonen im Deutschen Kaiserreich

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mussten Reisende innerhalb Deutschlands ihre Uhr oft neu stellen – denn jeder Ort hatte seine eigene Zeit. Vor 125 Jahren schloss sich das Deutsche Kaiserreich per Gesetz der mitteleuropäischen Zeitzone innerhalb der Weltstandardzeit an.

Von Hartmut Goege | 01.04.2018
    Die historische Uhr am Bahnhof Schmalkalden-Fachhochschule, aufgenommen im März 2011.
    Historische Uhr am Bahnhof Schmalkalden: Eisenbahn (Foto: Frank Poppe; Sammlung: Klaus Erbeck / dpa)
    "Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen, verordnen im Namen des Reichs: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich. Dieses Gesetz tritt mit dem Zeitpunkt in Kraft, in welchem nach der festgelegten Zeitbestimmung der 1. April 1893 beginnt."
    Der Aufruf des Kaisers sollte kein Aprilscherz sein, im Gegenteil: Es war der Wortlaut des Reichs-Gesetzblatts Nr. 7 und bedeutete so viel wie: Willkommen in der modernen Zeit! Denn der hing man bis dato in Deutschland hinterher, zumindest was die Uhrzeit anging. Überall las man nun ähnlich lautende Bekanntmachungen:
    "Wegen der eintretenden Veränderungen in den Verkehrsverhältnissen ersuche ich die Einwohnerschaft und insbesondere die industriellen Unternehmer ihre Uhren richtig zu stellen, und ersuche den Klostervorstand, mit dem 1. April die Kirchenuhr nach der neuen Zeitbestimmung zu richten."
    Alle 18 Kilometer eine Minute vor oder zurück
    Bisher hatte jeder Ort seine eigene Zeit, die sich nach dem Stand der Sonne richtete. Darauf waren die örtlichen Kirchturmuhren geeicht. Ein Reisender, der zu Fuß oder mit der Kutsche unterwegs war, konnte seine Taschenuhr also, je nachdem, ob er in westliche oder östliche Richtung reiste, alle 18 km um eine Minute vor- oder zurückstellen. Doch bis ins frühe 19. Jahrhundert hatte der größte Teil der Menschheit seine Heimat noch nie verlassen. Seit 1830 aber war die Reiselust rasant angestiegen. Und daran war nicht zuletzt die Eisenbahn schuld.
    Denn zwischen 1840 und 1880 wurden in Deutschland mehr als 33.000 Kilometer Eisenbahnschienen verlegt. Dem in Paris lebenden Heinrich Heine war schon früh das gewaltige Potenzial des neuen Verkehrsmittels bewusst. 1843 schrieb er:
    "Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee."
    Mehrere Uhren an jedem Bahnhof
    Es war eine Entwicklung, die einen riesigen Aufschwung der Wirtschaft und des Reiseverkehrs einleitete. Eigens für den Eisenbahnverkehr hatte man fünf Zeitzonen eingerichtet. Gleichzeitig galt in jeder Stadt die eigene Ortszeit. Jeder Bahnhof besaß mehrere Uhren mit unterschiedlichen Zeiten. Die Folge: Reisende rechneten ständig mit Hilfe ausgehängter Tabellen Uhrzeiten um: in Bayern nach Münchner Zeit, in der Bayerischen Pfalz nach Ludwigshafener Zeit oder in Württemberg nach Stuttgarter Zeit. War es in München 12 Uhr mittags, so zeigte die Uhr in Karlsruhe 11 Uhr 47 oder in Berlin 12 Uhr 7 an. Und wer etwa um den Bodensee reiste, musste sechsmal seine Uhr verstellen. Es war also höchste Zeit, dass sich etwas änderte.
    Der kanadische Ingenieur Sandford Fleming hatte schon 1876 das Missverständnis ausgeräumt, dass jeder Ort seine eigene Zeit hätte:
    "Ortszeit ist ein gängiges, aber vollkommen abwegiges Konzept, denn in Wirklichkeit gibt es nichts dergleichen. Es gibt nur eine Zeit. Sie ist die Realität mit unendlicher Vergangenheit und Zukunft. Und ihre Haupteigenschaft ist die Stetigkeit. Sie bildet eine absolute Größe, mit der beachtlichen Eigenschaft, dass man sie hübsch genau messen kann."
    Kaiserreich ist Nachzügler aus Eitelkeit
    Fleming hatte nichts weniger als eine weltumspannende Standardzeit ins Leben gerufen. Er teilte den Erdball in 24 Ein-Stunden Zeitzonen ein mit Hilfe von Längengraden, die von Pol zu Pol wanderten. Seine Idee hatte er in Nordamerika entwickelt. Dort galten zur Jahrhundertmitte 144 amtliche Zeiten. Ein Albtraum für jeden Bahnreisenden. Der weitgereiste Oscar Wilde, der eine englische "Normalzeit" gewohnt war, bemerkte dazu:
    "Die Menschen in Amerika sind hauptsächlich damit beschäftigt, Zügen hinterherzulaufen."
    Auf der Washingtoner Meridiankonferenz im Jahr 1884 einigten sich schließlich 25 Staaten der Erde auf eine allgemein gültige Weltzeit. Deutschland war noch ablehnend, weil der Null-Meridian durch die englische Sternwarte Greenwich verlaufen sollte und nicht durch Berlin.
    Dass das Kaiserreich 1893 sich dennoch mit der Einrichtung der Mitteleuropäischen Zeit dem System der neuen Weltzeit anschloss, war vor allem der Erkenntnis geschuldet, dass ohne einheitliche Zeit bei Mobilmachung im Kriegsfall zu viele Rekruten ihren Zug verpasst hätten.