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Vor 125 Jahren geboren
Lillian Gish: Der erste große Kinostar

Man sagte ihr nach, sie sei mit dem Kino verheiratet gewesen: Die Karriere der amerikanischen Schauspielerin Lilian Gish ist eng mit der Entwicklung bewegter Bilder verbunden. Die in Armut geborene Gish war ihrer Zeit voraus und bekam sogar eine eigene Optik gewidmet.

Von Katja Nicodemus | 14.10.2018
    Der ehemalige Stummfilmstar, die amerikanische Schauspielerin Lillian Gish, mit John Gilbert in King Vidors "La Boheme" aus dem Jahr 1926.
    Der ehemalige Stummfilmstar, die amerikanische Schauspielerin Lillian Gish ( picture alliance / dpa )
    "I‘m speechless!"
    Natürlich war Lillian Gish dann doch nicht ganz sprachlos, als sie 1971 zu Standing Ovations den Ehrenoscar entgegennahm - für ihr Lebenswerk, das eng mit der Entwicklung der bewegten Bilder verknüpft war. Geboren wurde Gish am 14. Oktober 1893 in Springfield, Ohio, zu jener Zeit, in der auch die Filmkunst das Licht der Welt erblickte. Bei der Oscarverleihung hielt sie eine gerade mal einminütige Rede - ein leidenschaftliches Bekenntnis zu ihrer Kunst:
    "Es war für uns ein Privileg, dieser wunderschönen Sache, dem Kino, zu dienen. Und wir zweifelten nie auch nur einen Augenblick daran, dass es die machtvollste aller Sprachen war - der Geist und der Herzschlag unseres technischen Jahrhunderts."
    Lillian Gish, vaterlos als Kind einer bitterarmen Familie aufgewachsen, durchlief eine harte, ja brutale Schule: Schon als Fünfjährige tourte sie für zehn Dollar die Woche alleine mit den Kollegen einer Comedy-Show durch die USA - getrennt von Mutter und Schwester. Sie spielte in Vaudevilles und in Kurzfilmen.
    Die erste nuancierte Darstellerin
    Als Neunzehnjähriger gelang es Gish, sich dem Regisseur David Wark Griffith vorzustellen. 25 Filme drehten die beiden gemeinsam, darunter die avantgardistischen Stummfilmepen "Geburt einer Nation", "Intoleranz", "Gebrochene Blüten". Es sagt sich so leicht, dass eine Schauspielerin ihrer Zeit voraus war. Aber Lillian Gish war es wirklich. Sie war nicht nur der erste große Star des Kinos, sie war dessen erste nuancierte Darstellerin.
    Während ihre Kolleginnen und Kollegen der Stummfilmzeit oftmals dramatisch, überexpressiv, eruptiv spielten, wirkten ihre Auftritte wie feine Zeichnungen. Der Herzmund, die großen Augen, die porzellanfarbene Haut, eine zarte, vergeistigte Schönheit. Über ihre frühen Leinwandjahre schreibt Gish 1963 in ihrer Autobiografie: "Ich spielte so viele fragile niedergeschlagene kleine Jungfrauen in den Filmen meiner Jugend, dass ich manchmal denke, ich habe diesen Rollentypus erfunden."
    Eine eigene Optik: Lilian-Gish-Linse
    Eigens für sie entwickelt der Kameramann Hendrick Sartov eine spezielle Optik, die ihr eine warme, weichgezeichnete Erscheinung verleiht: Die "Lillian-Gish-Linse": Dennoch ist Gish keine ätherische Diva, sondern eine hart arbeitende, physische Entbehrungen auf sich nehmende Darstellerin. In David W. Griffiths 1920 entstandenem Melodram "Weit im Osten" dreht sie tagelang bei Minustemperaturen eine Szene auf einer echten Eisscholle.
    Acht Jahre später, in Viktor Sjöströms Film "Der Wind" spielt sie eine Frau, die im amerikanischen Westen Fuß fassen will - und dort angesichts der rauen Natur und der sie bedrängenden Männer an den Rand des Wahnsinns gerät. "Der Wind" entstand in der amerikanischen Mojave-Wüste, bei Temperaturen von fast 50 Grad. Die Hitze und der von acht gefährlichen Flugzeugpropellern erzeugte ständige Sandsturm waren selbst für die keineswegs zimperliche Lillian Gish eine arge Prüfung.
    "Der Wind" ist ein bis heute verstörender Film. Nachdem Gishs Heldin ihren Vergewaltiger in Notwehr getötet hat, läuft sie aufgelöst in die Wüste, um zu sterben. Doch dieser Schluss war zu düster für seine Zeit.
    "Ein schlechtes Ende konnte eine Karriere ruinieren - und ich hatte bereits sieben schlechte Enden hinter mir. Also bekam der Film mit Gewalt ein Happy Ending - aber für uns war das moralisch verwerflich."
    Mit dem Kino verheiratet
    Lillian Gish, die 1993 knapp sieben Monate vor ihrem hundertsten Geburtstag starb, war nie liiert, sie war, so sagte man, mit dem Kino verheiratet. Sie selbst sah das pragmatischer, etwa als Gast einer amerikanischen Talkshow der achtziger Jahre.
    "Zumal ich 12 Stunden am Tag arbeitete, und das sieben Tage die Woche. Was für eine Art von Ehefrau oder Mutter wäre ich gewesen? Nun, immerhin habe ich keinem Mann das Leben ruiniert."
    Lillian Gish trat nach ihrer Kinokarriere im Theater und im Fernsehen auf - und kehrte am Schluss wieder zum Kino zurück. Am liebsten, sagte sie einmal, hätte sie weiter Stummfilme gedreht, die für sie die wahre Sprache des Kinos waren: Das ideale Medium für ihre feingliedrige Ausdruckskraft, jenseits der Geschwätzigkeit der Worte.