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Vor 150 Jahren
Zelluloid - der Auftakt ins Kunststoffzeitalter

Für John Wesley Hyatt ist der Traum vom großen Geld wahr geworden. Mit der Erfindung des Zelluloids, auf das er am 15. Juni 1869 ein Patent erhielt, ebnete er den Weg ins Kunststoffzeitalter. Damit ließen sich Billardkugeln herstellen, die bis dahin aus Elfenbein gefertigt waren ebenso wie Kämme oder Zahnbürsten.

Von Irene Meichsner | 15.06.2019
    Herrenrunde beim Billard, Foto 1920er Jahre, digital koloriert
    Billardkugeln aus Elfenbein konnten ersetzt werden durch Zelluloid, das kostengünstiger war (dpa / picture-alliance / akg-images)
    10.000 Dollar - das war eine unglaubliche Summe für einen jungen Mann wie John Wesley Hyatt, der nur wenige Jahre zur Schule gegangen war und seinen Lebensunterhalt als Druckergeselle verdiente. Aber da stand es, schwarz auf weiß, in einer Zeitungsannonce von Phelan & Collender, dem größten Hersteller von Billard-Bedarf in den USA. Hier die Szene aus einem amerikanischen Hörspiel aus den 30er Jahren; sie spielt im Jahre 1863 in Albany im US-Staat New York:
    "10.000 Dollar für ein Material, das sich zur Herstellung von Billardkugeln eignet, als Ersatz für das Elfenbein. Das ist sehr viel Geld!!"
    Elfenbein war teuer. Und es wurde allmählich knapp, nachdem schon Zigtausende von Elefanten abgeschlachtet worden waren, nur um aus ihren Stoßzähnen Billardkugeln herzustellen. Er habe zwar keine Ahnung von Chemie, sagte sich Hyatt. Aber: "Worauf es wirklich ankommt, sind die Dinge, die man selber herausfindet. " Hyatt machte sich ans Werk. Seine erste Billardkugel besaß einen Kern aus gepressten Textilfasern mit einem Überzug aus Schellack und Elfenbeinstaub, stellte ihn selber aber noch nicht zufrieden. Dann passierte ihm eines Tages das Missgeschick mit dem "Kollodium", einer zähflüssigen Lösung aus so genannter Schießbaumwolle oder Nitrozellulose, die Drucker damals benutzten, um ihre Finger vor Verletzungen zu schützen. Ein Fläschchen war umgekippt und ausgelaufen; die flüchtigen Lösungsmittel waren verdunstet. Hyatts Blick fiel auf einen trockenen, transparenten Film, etwa so groß und so dick wie ein Daumennagel.
    "Das ist ja interessant! ... Das ist Nitrocellulose, gelöst in Ether und Alkohol ... Das bringt mich auf eine Idee. Und diese Idee - ist womöglich 10.000 Dollar wert!"
    Am 15. Juni 1869 bekam Hyatt ein Patent auf seinen ersten "thermoplastischen" Kunststoff, der aus stark erhitztem und unter hohem Druck in eine Form gepresstem Kollodium bestand. Sein Bruder Isaiah gab ihm später den Namen "Zelluloid". Noch besser war das Ergebnis, wenn man Kampfer als Lösungsmittel hinzufügte – eine Idee des britischen Chemikers Alexander Parkes, die sich Hyatt zu eigen machte. Warnungen namhafter Chemiker, dass es sich bei der Mixtur aus Kampfer und Schießbaumwolle um eine ziemlich explosive Mischung handle, schlug er in den Wind.
    Nachteil des Zelluloids: Es war leicht entflammbar
    "Vermutlich war es besser, dass ich kein Gelehrter war. Sonst hätte ich mich an so manches Experiment womöglich gar nicht herangetraut", sagte Hyatt im Nachhinein. Gemeinsam gründeten die Brüder eine Firma. 1872 zogen sie mit ihrer "Celluloid Manufacturing Company" nach Newark, wo Geschäftspartner aus New York ihr Geld in einen großen Maschinenpark investierten. Weil das Zelluloid nach dem Erkalten seine Form behielt, ließ es sich zu allen möglichen Gebrauchsgegenständen verarbeiten, darunter Kämme, Messergriffe, Zahnbürsten, Brillengestelle, Schmuckstücke, Hemdkragen, Manschetten und – der erste Verkaufsschlager der Gebrüder Hyatt: Gaumenplatten für Zahnprothesen. Ein Nachteil des Zelluloids: es war leicht entflammbar. Auch für Billardkugeln eignete es sich nur bedingt. Prallten die Kugeln zu heftig aufeinander, kam es zu winzigen Explosionen, ähnlich dem Geknatter einer Zündplättchenpistole.
    "Einmal bekamen wir einen Brief vom Eigentümer eines Billard-Salons aus Colorado. Er schrieb, ihm selber mache das Geräusch nicht viel aus. Aber manchmal sei es so laut, dass alle Männer im Raum ihre Revolver zögen."

    Mit der Erfindung des Zelluloids hatte Hyatt den Weg ins Kunststoffzeitalter geebnet. Als er 1920 im Alter von 82 Jahren starb, war die Ära des Zelluloids fast schon wieder vorüber. Ihm folgten die ersten vollsynthetischen Kunststoffe, die sich noch besser verarbeiten ließen. Unentbehrlich blieb das Zelluloid noch lange im Kino, wo es als Träger für das Filmmaterial diente. Mit am längsten überlebte es - in Tischtennisbällen. Erst vor kurzem wurden die alten Bälle aus Zelluloid durch Plastikbälle ersetzt. Seitdem hört man bei großen Tischtennis-Turnieren nicht mehr das vertraute "ping-pong", sondern nur noch ein dumpfes "plock".