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Vor 20 Jahren
Das Zugunglück von Eschede

Es war die größte Eisenbahnkatastrophe der Bundesrepublik und eines Schnellzuges weltweit. Heute vor 20 Jahren entgleiste im niedersächsischen Eschede ein ICE bei 200 Stundenkilometern und prallte gegen eine Brücke. 101 Menschen starben, 88 wurden verletzt. Auf ein Schuldeingeständnis warteten die Betroffenen vergebens.

Von Andreas Baum | 03.06.2018
    An einer durch einen Intercity-Zug total zerstörten Straßenbrücke in Eschede liegen am 3.6.1998 die verunglückten Waggons kreuz und quer.
    Bei den Bergungsarbeiten des Zugunglücks bei Eschede 1998 (dpa)
    Ein dumpfer Knall, gefolgt von einem mächtigen, metallischen Grollen erschütterte am Vormittag des 3. Juni 1998 die Ortschaft Eschede in der Lüneburger Heide. Eine riesige Staubwolke legte sich auf Häuser und Gärten. Die Anwohner der Siedlung neben den Gleisen rannten zur Unglücksstelle, einer von ihnen war Joachim Gries, ein Zeitungsredakteur.
    "Es war nicht sonderlich laut. Die Menschen, die wimmerten eigentlich mehr, die jammerten mehr. Die klagten aber nicht so lauthals, wie man sich das vielleicht vorstellt, und von daher hab ich das nicht so in Erinnerung, dass da so ein Geschrei war, nein, überhaupt nicht."
    Ein ICE war bei Tempo 200 entgleist und auf eine Brücke geprallt, die er einriss und die Teile des Zuges unter sich begrub. Mehrere in sich verbogene Waggons waren übereinander geschoben worden. Glassplitter lagen weit im Umkreis verteilt, ebenso Kunststoffteile und Metall, Kleidungsstücke, Koffer und persönliche Gegenstände der Reisenden. Ohne Zeit zu verlieren, begannen die Anwohner, Verletzten zu helfen. Nach wenigen Minuten trafen die ersten Rettungskräfte ein, unter ihnen Birgit Aust, Bereitschaftsführerin des Roten Kreuzes.
    "Für mich war ganz schlimm wirklich zu sehen diesen krassen Unterschied: Da hab ich ein Leichenteil von einem Kind aufgesammelt und direkt daneben liegt ein Stück Plastik, das war ein Spielzeug und das war heile. Das dann erst mal zu verstehen. Wieso ist das heile geblieben und das Kind, dem das wohl gehört hat, nicht."
    Klang wie eine Bombe
    Das Unglück von Eschede forderte 101 Todesopfer. 88 Fahrgäste wurden schwer verletzt, unter ihnen Udo Bauch, der später ein Buch über das Unglück und seinen Weg zurück ins Leben schrieb. Der Knall des Aufpralls, der den Zug, wie später ermittelt wurde, in nur 3,6 Sekunden von Tempo 200 auf Null Km/h abbremste, klang für ihn wie eine Bombe.
    "Ich wurde einfach durch den Waggon geschleudert von links nach rechts, richtig durchgeschüttelt, dann von Trümmern überschlagen, kann man sagen, und wurde dann eingeklemmt, und so ist auch die schwere Beinverletzung zu erklären."
    Noch am selben Tag nahm eine Sonderkommission die Arbeit auf, suchte und vernahm Überlebende. Einige berichteten von einem Poltern unter dem Zug, das Minuten vorher zu hören gewesen war. Und bevor die genaue Zahl der Toten bekannt war, präsentierte der Leiter des Eisenbahnbundesamtes Horst Stuchli der Öffentlichkeit einen ersten Verdacht.
    "Es gewinnt die Erkenntnis an Bedeutung, dass ein Radreifen geplatzt ist und dann an der ersten Weiche 300 Meter vor der Brücke die Entgleisung verursacht haben könnte. Dies wird aber von uns noch genau untersucht."
    Die erste Generation der ICEs lief anfangs auf Vollmetallrädern, die erheblich vibrierten: Bei hohen Geschwindigkeiten wurde es laut, im Speisewagen wanderten Teller auf den Tischen, Flaschen fielen um. Die Lösung der Bahn: gummigepolsterte Radreifen, eine Eigenentwicklung, auf sie sehr stolz war. Plötzlich fuhren die Züge wie auf Butter. Nach der Katastrophe wurde der Bahn vorgeworfen, dass die Radreifen nicht im Dauerbetrieb bei Geschwindigkeiten über 200 Stundenkilometern erprobt worden waren. Und dass es keine restlos fehlerfreie Methode gegeben habe, um zu überprüfen, ob sich Haarrisse in den Radreifen gebildet hatten.
    "Die Ermittlungen zeigten, dass die Wirtschaftlichkeit bei der Wartung der Radreifen im Vordergrund stand. Ein promovierter Ingenieur muss wissen, welche Schäden durch die Belastung an einem drehenden Rad entstehen."
    So äußerte sich Jahre später Kriminaldirektor Erich Philip, der die Ermittlungen leitete. Bereits sechs Kilometer vor der Unglücksstelle brach demnach ein Radreifen, das Metall wickelte sich vom Rad ab, schlug durch den Boden eines Abteils und blieb zwischen zwei Sitzen stecken. Fahrgäste sollen einen Schaffner noch von dem Schaden informiert haben. Bevor der sich allerdings von der Lage ein Bild machen und die Notbremsung einleiten konnte, entgleiste der Zug.
    Kein offizielles Schuldeingeständnis der Bahn
    Vier Jahre später wurde vor dem Landgericht Lüneburg die Hauptverhandlung gegen Mitarbeiter der Bahn eröffnet, die sich für die Entwicklung und Wartung der Radreifen verantworten mussten. Rechtsanwalt Reiner Geulen, der die Geschädigten vertrat, machte klar, dass die Angeklagten nur stellvertretend für einen ganzen Konzern auf der Anklagebank saßen. Denn der fahrlässigen Tötung konnten nur natürliche, nicht juristische Personen angeklagt werden.
    "Die Bahn hat diesen Unfall verschuldet. Die Bahn verhält sich so, wie jeder andere Angeklagte, er setzt sich erst mal hin, macht sozusagen ein dummes Gesicht, als hätte er damit nichts zu tun, äußert sich nicht, leugnet seine Schuld und sagt immer: die kriegen überhaupt nichts von mir."
    In der Tat zog sich die Bahn aus Sicht der Geschädigten feige aus der Verantwortung: Zwar zahlte sie freiwillig Schmerzensgeld und Entschädigungen. Nie aber gab sie offiziell ein Schuldeingeständnis ab.
    Im Jahr 2003 schlug der Richter vor, das Verfahren einzustellen: Eine schwere Schuld war den Ingenieuren nicht nachzuweisen.
    In Eschede erinnert heute eine Gedenkstätte mit 101 Kirschbäumen an die Katastrophe. Bis dato hat die Bahn die gummigefederten Räder in ihren Schnellzügen nicht wieder eingeführt.