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Vor 20 Jahren
Erste Anklageerhebung gegen einen amtierenden Staatschef

Am 25. Juli 1995 erhob das UN-Kriegsverbrechertribunal Anklage gegen Radovan Karadžić, Präsident der abtrünnigen Republik Srpska in Bosnien-Herzegowina, und gegen seinen Generalstabschef Ratko Mladić. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord, begangen an Muslimen.

Von Norbert Mappes-Niedieck | 25.07.2015
    Radovan Karadžić 2013 in Den Haag vor dem Sondertribunal. Das Urteil wird für Oktober 2015 erwartet.
    Radovan Karadžić 2013 in Den Haag vor dem Sondertribunal. Das Urteil wird für Oktober 2015 erwartet. (dpa/ picture alliance / Robin Van Lonkhuijsen / Pool)
    Was der Südafrikaner Richard Goldstone am 25. Juli 1995 da verliest, klingt nicht nach einem historischen Ereignis – kein Wunder auch, denn niemand außer dem Tonband hört ihm zu. Und doch sind es unerhörte Worte: Der Chef-Ankläger des UNO-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag erhebt Anklage gegen zwei prominente Figuren, die man täglich in der Nachrichten sieht und von denen sich keiner vorstellen kann, dass sie eines Tages leibhaftig vor den Schranken des Gerichts erscheinen werden - gegen Radovan Karadžić, damals Präsident der bosnischen Serbenrepublik Srpska, und gegen seinen Generalstabschef Ratko Mladić.
    Ihnen wird Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Geiselnahme zur Last gelegt. Goldstone skizziert Karadžićs Werdegang zum Vorsitzenden der Serbischen Demokratischen Partei und scheut sich nicht, deren politische Richtung zu werten:
    "Radovan Karadžić ist einer der Hauptarchitekten des Parteiprogramms, das eine extrem nationalistische und ethnische Politik und Zielsetzung umfasst."
    Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war auf der Flucht
    Keine zwei Wochen war es her, dass die Truppen des Generals Mladić Tausende Männer und Jungen aus der Kleinstadt Srebrenica im Osten Bosniens systematisch ermordet hatten.
    Juli 1996: Eine Mitarbeiterin des UN-Tribunals für Kriegsverbrechen entfernt  Erde von Skeletten in einem Massengrab in der Nähe von Srebrenica.
    Juli 1996: Eine Mitarbeiterin des UN-Tribunals für Kriegsverbrechen entfernt Erde von Skeletten in einem Massengrab in der Nähe von Srebrenica. (dpa/Odd Andersen)
    Der Krieg in Bosnien, der bis zu seinem Ende ein Vierteljahr später 100.000 Tote kosten sollte, war noch in vollem Gange. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war auf der Flucht – vertrieben im Zuge der sogenannten "ethnischen Säuberungen", mit denen vor allem die Serben ein national einheitliches Territorium schaffen wollten. Ohne Karadžić schien ein Friedensschluss damals kaum möglich. Konnte man den Anführer einer Kriegspartei einfach festnehmen, einen Mann, der täglich in Genf verhandelte und sogar den amerikanischen Ex-Präsidenten Jimmy Carter hatte empfangen dürfen? Nach der Logik des Gerichts musste man.
    "Radovan Karadžić wurde der erste Präsident der bosnisch-serbischen Regierung in Pale. Die Verfassung dieses Gemeinwesens sieht vor, dass der Präsident die Streitkräfte befehligt."
    Noch im selben Jahr kam es im fernen Ohio zum Friedensschluss – ohne die angeklagten Karadžić und ohne Mladić. Ein paar Monate blieben beide noch im Amt, dann traten sie auf Drängen der Amerikaner freiwillig zurück. Zwölf Jahre später erst, im Sommer 2008, erreichte Karadzic, als ersten der beiden, doch noch der Arm des Gesetzes, und zwar in Belgrad , wo er sich versteckt gehalten hatte. Die serbische Regierung lieferte ihn an das Haager Tribunal aus. Dort angekommen, zog Karadžić vor dem Richter seinen großen Trumpf aus dem Ärmel, wie er dachte. Die Amerikaner hätten ihm Straffreiheit versprochen, behauptete er. Überbracht haben sollte das Angebot kein Geringerer als der Vize-Außenminister der USA, Richard Holbrooke.
    "Meinen Bevollmächtigten und Ministern wurde 1996 von Herrn Holbrooke im Namen der Vereinigten Staaten ein Angebot gemacht. Danach sollte ich mich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und bestimmte Auflagen erfüllen. Im Gegenzug wollten die USA ihrem Versprechen auf Straffreiheit nachkommen."
    Urteil für Oktober 2015 erwartet
    Dass ein hoher Würdenträger der Weltmacht USA mächtig genug war, ihm, Karadžić, vor einem internationalen Gerichtshof Straffreiheit zu garantieren – daran zweifelte der bosnische Serbenführer offenbar auch viele Jahre später noch nicht. Aber sein Trumpf stach nicht.
    "Herr Karadžić, Sie wollen der Kammer zu Gehör bringen, dass offenbar Vereinbarungen zwischen an Staaten gebundene Personen getroffen wurden. Der Kammer ist von solchen Vereinbarungen nichts bekannt. Wenn Sie das Thema behandelt sehen wollen, wäre es für uns natürlich wichtig, die vollen Fakten und Beweise zu bekommen, um die Angelegenheit zu berücksichtigen."
    So die unterkühlte Entgegnung des niederländischen Richters Alphons Orie. 20 Jahre nach der ersten Anklageerhebung gegen einen amtierenden Staatschef hat die internationale Gerichtsbarkeit genug an Selbstbewusstsein gewonnen, dass sie sich um die Garantien von Großmächten nicht mehr scheren muss. Radovan Karadžić sitzt noch immer in seiner Zelle in Den Haag und erwartet im Oktober sein Urteil. Wenn der Prozess erst vorbei ist, wird er voraussichtlich noch viel Zeit haben und vielleicht verstehen lernen, dass in der Welt von heute selbst über einen Staatschef nicht mehr nur die Geschichte urteilen darf.