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Vor 20 Jahren in Seattle
50.000 Protestierende gegen die WTO

Seattle war vor 20 Jahren, ab dem 30. November 1999, Austragungsort der Ministerkonferenz der Welthandelskonferenz (WTO). Doch auch rund 50.000 Kritiker von Freihandel und Neoliberalismus aus aller Welt waren nach Seattle gekommen – und stellten die Globalisierung infrage.

Von Almut Finck | 30.11.2019
    Tränengas wurde gegen die Demonstranten eingesetzt während der Proteste gegen die Konferenz der WTO in Seattle am 30.11.1999
    Demonstrant gegen die Konferenz der WTO am 30. November 1999 in Seattle (AFP/dpa)
    Szenen wie aus dem Bürgerkrieg: Polizisten und Nationalgarde mit Gasmasken und in Schutzanzügen. Der Staatsmacht gegenüber: schwarz vermummte Protestler, ausgeliefert den Gummigeschossen, dem Tränengas. Mülltonnen brennen, Schaufenster werden zertrümmert.
    Seattles Bürgermeister verhängt den Ausnahmezustand. Dabei begann alles friedlich: 50.000 Globalisierungsgegner aus der ganzen Welt reisten ins US-amerikanische Seattle, mobilisiert – erstmals – durch das junge Medium Internet. Am Morgen des 30. November 1999 wollen die Minister der damals 135 Mitgliederstaaten der WTO, der Welthandelsorganisation, zusammenkommen. Doch die Aktivisten haben Straßenkreuzungen besetzt, das Konferenzzentrum blockiert. Ein Durchkommen ist unmöglich. Ihr redet von Freihandel, skandieren sie, wir fordern fairen Handel.
    Die Weltwirtschaft boomt am Ende des Jahrhunderts. Freihandel, Vernetzung multinationaler Konzerne, Deregulierung der Finanzmärkte, das sind die Zauberworte.
    "1999 war die Mainstream Stimmung noch die: Globalisierung ist was Gutes. Es hebt die kleinen Boote und die großen Tanker gleichermaßen empor, also Entwicklungsländer, Schwellenländer, Industrieländer, alle profitieren."
    Peter Wahl, Vorstandsmitglied der globalisierungskritischen Nichtregierungsorganisation WEED und Mitbegründer von Attac Deutschland.
    "Seattle war dann ein Signal, dass sich zunehmend auch kritische Stimmen da hineinmischten."
    Demonstranten legen das öffentliche Leben in Seattle lahm
    Es ist eine heterogene Allianz, die eine Woche lang das öffentliche Leben in Seattle lähmt und am Ende tatsächlich die WTO-Konferenz zum Platzen bringt: Amerikanische Gewerkschafter, die nationale Protektion fordern, aus Angst vor Konkurrenz aus Billiglohnländern, Umweltschützer:
    "Der Güterhandel ist ja fast explosionsartig seit den 80er-Jahren angewachsen. Und das hat natürlich dramatische Konsequenzen für den CO2-Ausstoß und für den Ressourcenverbrauch."
    Schließlich Menschenrechtler, die Ausbeutung sowie fehlende Sozial- und Gesundheitsstandards in der Dritten Welt monieren. Im Fokus der Kritik aller: die Deregulierungsmaßnahmen der 1995 gegründeten WTO. Die Globalisierungsgegner verstehen nicht, weshalb diese WTO nicht die USA bestraft, die hormonverseuchtes Fleisch nach Europa exportieren, sondern die EU, weil sie diesen Export zu unterbinden sucht. Und sie können nicht erkennen, inwiefern schrankenloser Warenverkehr ein Versprechen für Kleinbauern in Westafrika bedeutet. Peter Wahl:
    "Wenn Sie sich vorstellen, dass die Marktfrauen, die ihre Hühner dort verkaufen, niederkonkurriert werden von den Billighühnern, die hier in der Massentierhaltung produziert werden."
    Protest gegen die Konfererenz der WTO am 1. Dezember 1999 in Seattle
    50.000 Demonstranten kamen zur Protest gegen die Konferenz der WTO in Seattle (AFP/dpa)
    Die Welthandelsdoktrin fordert gleiches Recht für alle. Jeder soll überall hingehen und Handel treiben dürfen. Doch das unterschlägt:
    "Dass es ein gewaltiger Unterschied ist, ob zwei ungefähr Gleichstarke miteinander konkurrieren, da kann so etwas segensreich und positive Effekte haben. Aber wenn Ferrari gegen den Eselskarren antritt, ist natürlich klar, wie das Ganze ausgeht." (Peter Wahl)
    Globalisierung gerät immer mehr in die Kritik
    Seattle war ein Startschuss, hat selbst bei Advokaten offener Märkte ein Problembewusstsein für die Kehrseiten der Globalisierung geweckt. Dann kam die Finanzkrise, 2008. Die negativen Folgen eines entpolitisierten Weltmarktes mit unbegrenztem Kapitalfluss ließen sich schwer noch leugnen. Weiter zugespitzt hat sich die Lage durch den Klimawandel. Schiffs- und Flugverkehr gelten als Hauptverursacher von Schäden an der Stratosphäre. Peter Wahl:
    "Das alles muss reduziert werden. Das ist heute Mehrheitsmeinung, bis in Industrie und Wirtschaftskreise hinein. Wir brauchen keine Tomaten aus Chile."
    Heute gibt es weltweit hunderte regional verankerte globalisierungskritische NGOs. Dazu kommen große Aufbruchsbewegungen.
    "In Frankreich die Gilets Jaunes, in Hong Kong die Bewegung, bei uns und in anderen Ländern Fridays For Future. Und ich denke, diese Mischung, der Problemdruck auf der einen Seite, und auf der anderen Seite das Engagement von unten in der Zivilgesellschaft, diese Mischung gibt Anlass dafür, dass sich einiges ändert."