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Vor 25 Jahren
Das Verbot der "Islamischen Heilsfront" (FIS) in Algerien und die Folgen

Wie in Ägypten und Tunesien demonstrierten 2011 auch in Algerien die Menschen für Freiheit und Demokratie. Ein großer Gewaltausbruch blieb jedoch aus. Ein Grund dafür: Die schmerzhafte Erinnerung an den blutigen Bürgerkrieg in den 90er-Jahren mit bis zu 200.000 Toten.

Von Tobias Mayer | 04.03.2017
    Bei einer Kundgebung der Islamischen Heilsfront in Algier am 6. Dezember 1991 fordern die Demonstranten die Freilassung der inhaftierten FIS-Führer.
    Bei einer Kundgebung der Islamischen Heilsfront in Algier am 6. Dezember 1991 fordern die Demonstranten die Freilassung der inhaftierten FIS-Führer. (picture-alliance / dpa - Bildarchiv)
    "Trotz Belagerungszustandes ist es heute in Algier wieder zu Unruhen gekommen. Nach dem Freitagsgebet zogen mehrere tausend Jugendliche durch die Straßen und riefen islamische Parolen. Als sie mit Steinen warfen, ging die Polizei mit Wasserwerfern vor."
    Im Oktober 1988 eskalierte die Lage in Algerien. Das Land steckte tief in einer Wirtschaftskrise. Mitte der 80er-Jahre waren die Weltölpreise eingebrochen, es waren Zeiten des Mangels. Die Menschen gingen auf die Straße gegen soziale Ungleichheit und Korruption. An der Spitze der Demonstrationen marschierten die Islamisten.
    Das Regime reagierte mit der Öffnung der Wirtschaft und einer vorsichtigen Demokratisierung. Im Februar 1989 wurden neue Parteien zugelassen. Wenige Tage darauf gründete sich der "Front Islamique du Salut", abgekürzt: FIS, die "Islamische Heilsfront". Diese islamistische Volksbewegung war der neue Hoffnungsträger. Sie gewann 1990 die Kommunalwahlen. Ihre Anhänger waren euphorisch.
    "Mit der Hilfe Gottes können alle Probleme, die die moderne Welt kennt, gelöst werden. Die westliche Zivilisation basiert auf dem Streben nach materiellen Dingen. Aber wohin hat uns das geführt? Der Islam basiert auf der Teilhabe des Menschen. Wenn die Demokratie gegen die göttlichen Gesetze ist, weisen wir sie zurück. Wenn sie aber nicht gegen die göttliche Ordnung ist, wäre das wunderbar."
    Ein Land stürzt ins Chaos
    Bei den Parlamentswahlen im Dezember 1991 erreichte die "Islamische Heilsfront" fast die Hälfte aller Stimmen. Das Regime stand unter Schock. Es zeichnete sich ab, dass die FIS im zweiten Wahlgang einen überwältigenden Sieg davontragen würde. Doch soweit kam es nicht. Das Militär putschte und verhinderte damit die Machtübernahme der Islamisten. Das Parlament wurde aufgelöst, Wahlen und Verfassung ausgesetzt. Am 4. März 1992 wurde die "Islamische Heilsfront" verboten. Algerien stürzte ins Chaos.
    Radikale militante Gruppen spalteten sich von der FIS ab. Mit Anschlägen versuchten sie, das Land zu destabilisieren, ihr Ziel: Ein islamischer Staat, in dem die Scharia über allem stehen würde. Religiöse Fanatiker verübten mehr als zwei Dutzend grausame Massaker in algerischen Dörfern mit teilweise hunderten Toten. Die Journalistin Rania Ozaki berichtete 1997 aus dem Örtchen Raïs südlich von Algier.
    "Ich habe mehr als ein Dutzend Lastwagen vom Zivilschutz und Krankenwagen gesehen. Sie luden die Körper der ermordeten Frauen, Kinder und Männer ab. Ich konnte nicht mitzählen. Die Leichenhalle hat nicht ausgereicht. Die Särge reichten nicht, die Bahren reichten nicht. Dann haben sie Planen auf dem Boden ausgelegt und darauf einen Körper neben dem anderen abgelegt. Selbst die Planen reichten nicht aus. Zwei Stunden war ich vor Ort, und immer noch haben sie Körper abgeladen."
    Bis zu 200.000 Tote
    In einem schmutzigen Bürgerkrieg missachteten auch die staatlichen Sicherheitskräfte alle humanitären Prinzipien. Wer Freund war und wer Feind, verwischte immer mehr. 1999 wurde Abdelaziz Bouteflika Präsident Algeriens, die bewaffneten Islamisten waren militärisch besiegt. Doch den Preis dafür zahlte das Volk: bis zu 200.000 Tote hatte der fast zehn Jahre dauernde Bürgerkrieg gefordert. Der militante Arm der FIS legte schließlich die Waffen nieder.
    Präsident Bouteflika hielt viele Reden, doch eine Versöhnung zwischen Islamisten und Säkularen, zwischen Regime und Opposition fand in dem traumatisierten Land nicht statt, es gab keine gesellschaftliche Debatte über die Verbrechen auf beiden Seiten. Bis heute begegnen sich die Menschen in Algerien mit Misstrauen.
    Einige Jahre paktierten gemäßigte Islamisten mit dem Regime. Sie waren an der Regierung beteiligt und sitzen bis heute im Parlament. Die neuerliche Wiederwahl des greisen Präsidenten Bouteflika 2014 haben die islamistischen Parteien allerdings boykottiert.
    Fest im Griff des Militärs
    Algerien trägt das Gewand der Präsidialdemokratie, doch das Militär hält das Land fest in der Hand. Das Volk hat kaum die Möglichkeit, Veränderungen zu fordern. Viele haben aber auch einfach Angst vor neuem Chaos. Die Erinnerungen an den schlimmen Bürgerkrieg in den 90er-Jahren sind immer noch frisch. Auch deshalb ist der "Arabische Frühling" 2011 an Algerien vorbeigezogen.