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Vor 275 Jahren
Ein Baum als Inspiration für eines der ersten Naturschutzgesetze

Ein Kastanienbaum so groß, dass sich 100 Pferde darunter flüchten könnten, das faszinierte die bourbonische Administration vor 275 Jahren. Sie stellte den "Kastanienbaum der hundert Pferde" unter Schutz, um "das Angedenken dieser herrlichen Natur zu erhalten". Bei Verstößen drohte das Gefängnis.

Von Maike Albath | 21.08.2020
    Blätter eines Kastanienbaumes
    Blätter eines Kastanienbaumes (imago images/Shotshop)
    Sizilien, in der Nähe von Catania, am Osthang des Ätna bei Sant’Alfio. Der Vulkan ist wolkenverhangen, die Vegetation mediterran, aber schon von weitem kann man eine imposante Kastanie erkennen. Oder sind es mehrere Bäume mit verschiedenen Kronen, die im Kreis stehen? Es ist tatsächlich nur ein einziger, wie botanische Analysen ergaben, und er soll mindestens 2.000 Jahre alt sein, vielleicht sogar älter. 1636 schilderte der Priester Pietro Carrera in seinem Buch Il Mongibello die Vulkanausbrüche und Brände des Landstrichs und beschrieb auch das spektakuläre Gewächs:
    "Diese Kastanie, ein Ungeheuer unter den Bäumen und ein Wunder für die Menschen, bietet in ihrem großen, von der Natur ausgehöhlten Stamm etlichen Schafen, Ziegen, Schäfern und Landarbeitern eine Herberge, und weder die Hitze des Sommers noch die Kälte des Winters kann dieser wundersamen Heimstatt etwas anhaben."
    Eines der ersten Naturschutzgesetze der Welt
    Die außergewöhnliche Gestalt des Baumes befeuerte manche Legenden. Am 21. August 1745 erließ die bourbonische Administration einen Erlass zum Schutz der Kastanie. Miteinbezogen wurde ein benachbarter, ähnlich imposanter Baum, der einem Schiff zu ähneln schien.
    "Wir möchten nicht, dass diesen Bäumen auch nur der kleinste Schaden zugefügt wird, stattdessen sollen sie erhalten und mit größter Sorgfalt gehegt und gepflegt werden. Im Vertrauen auf gute Führung verfolgen wir jedwedes Zuwiderhandeln von Waldhütern oder Pächtern mit Geldstrafen und Gefängnis mit dem Ziel, die Konservierung der besagten Kastanien zu sichern, so dass sie auf das Lebendigste das Angedenken dieser herrlichen Natur erhalten, die jeden einzelnen begeistert und dem Königreich eine Zierde ist."
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    In einem einzigen, barock gewundenen Satz formulierte die Ordnungsmacht eines der ersten Naturschutzgesetze überhaupt. Der Baum wurde rasch berühmt und gehörte bald zum Pflichtprogramm der Grand Tour, der obligatorischen Reise gen Süden, die für junge Adlige und Großbürger Teil der Erziehung war. Der Engländer Patrick Brydone begutachtete die Kastanie, und der französische Maler, Architekt und große Reisende Jean Houël fertigte ein Gemälde von ihr an. In seiner Reisebeschreibung Voyage pittoresque von 1787 zeigte er sich vom Baum ebenso fasziniert wie von den Geschichten, die über ihn kursierten:
    "Von den Gelehrten des Ortes ließ ich mir erzählen, dass er der 'Baum der hundert Pferde' hieße, weil er einen so großen Schatten werfe. Sie sprachen von Königin Johanna von Aragon, die auf der Reise von Spanien nach Neapel in Sizilien Halt machte, um in Begleitung des Adels von Catania und ihres Gefolges den Ätna zu besuchen. Die Gesellschaft war zu Pferd unterwegs, als sie von einem Gewitter überrascht wurde und sich unter diesen Baum flüchtete. Das dichte Laubwerk reichte aus, um der Königin und all ihren Reitern Schutz zu bieten."
    Goethe nahm keine Notiz vom Baum
    Einem Fremden wollte man die köstlichen Details vielleicht nicht anvertrauen, aber unter Sizilianern erzählte man sich von Liebesabenteuern der Königin im Schutz des Baumes, bei denen sie sich von mehr als einem ihrer Begleiter beglücken ließ. Um welche Johanna es sich handelte und ob nicht doch alles der Phantasie entsprang, war schon damals ungewiss. Sicher ist, dass ausgerechnet der große deutsche Italienreisende aus Weimar 1787 den Baum übersah. Johann Wolfgang von Goethe schaute die Kastanie nicht an. Und Johann Gottfried Seume, der schließlich gemächlich zu Fuß über die Insel wanderte und auch den Ätna bestieg?
    "Auf meinem Wege nach Taormina zeigte mir mein Führer den alten, großen, berühmten Kastanienbaum in der Ferne. Kaum kann ich sagen, dass ich ihn gesehen habe, ich wollte ihm aber nicht einen Tag aufopfern."
    So eilig hatte es Seume 1802 auf seinem Spaziergang von Syrakus zurück in Richtung Norden. Die Kastanie wurde stattdessen von Dialektdichtern wie Giuseppe Borrello besungen. 1923 kam es zu einem Feuer, das den Hauptstamm angriff. Damals gehörte das Gelände der Adelsfamilie Caltabiano, die es für Feiern und Bankette nutzte. 1965 wurden die Besitzer enteignet, und man erklärte den Baum zu einem nationalen Denkmal. Die "Kastanie der hundert Pferde" steht immer noch da und lässt die Jahrhunderte vorüberziehen.