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Vor 50 Jahren
Als China die "Autonome Region Tibet" gründete

Eine Bewegung für die Menschenrechte - so sieht China die Gründung der Autonomen Region Tibet. Und so bejubelten die Menschen das Ereignis vor 50 Jahren. Doch bis heute herrscht dort keine echte Autonomie. Was friedliche Befreiung sein sollte, wird bis heute als Besetzung empfunden.

Von Ruth Kirchner | 09.09.2015
    Mai 1965: Der Leiter der chinesischen Delegation, der stellvertretende Ministerpräsident Chen Yi (2.v.r.), schreitet mit dem Dalai Lama zu seiner Rechten und dem Pantschen Lama zu seiner Linken eine tibetanische Ehrengarde ab, nachdem Tibet zur Autonomen Region erklärt wurde.
    Mai 1965: Der Leiter der chinesischen Delegation, der stellvertretende Ministerpräsident Chen Yi (2.v.r.), schreitet mit dem Dalai Lama zu seiner Rechten und dem Pantschen Lama zu seiner Linken eine tibetanische Ehrengarde ab, nachdem Tibet zur Autonomen (dpa/picture alliance/AFP)
    Fotos und Filmaufnahmen vom September 1965: jubelnde Menschen in Lhasa. Über 30.000 kamen zusammen, als die Autonome Region Tibet endgültig aus der Taufe gehoben wurde. In der Pekinger Propaganda war schon der Einmarsch der Armee 14 Jahre zuvor als "friedliche Befreiung" einer feudalen Sklavengesellschaft bejubelt worden. Nun war die Eingliederung Tibets in die Volksrepublik China abgeschlossen. Bis heute kommentiert das Staatsfernsehen dieses Ereignis so:
    Die demokratische Revolution in Tibet sei ein historischer Fortschritt und eine Bewegung für die Menschenrechte gewesen, sagt ein Sprecher. Doch erst sechs Jahre vor der Einrichtung der Autonomen Region hatte China einen Aufstand der Tibeter blutig niedergeschlagen. Der Dalai Lama war nach Indien ins Exil geflohen. Mit der Autonomen Region habe Peking daher zwei Ziele verfolgt, sagt Kristin Shi-Kupfer vom Merics Institut in Berlin:
    "Sie wollten einen verlässlichen Rahmen schaffen - sowohl für die tibetische Bevölkerung als auch für sich selbst - im Rahmen dessen zum einen gewährleistet ist größtmögliche Autonomie für die tibetische Bevölkerung, auf der anderen Seite aber eben auch größtmögliche Kontrolle vonseiten der Zentralregierung durch Stationierung beispielsweise von Militär, auch durch die ganz klare Zusage, dass alle außenpolitischen Belange dieser Region aus Peking geregelt werden."
    Zum Parteisekretär wurde im September 1965 Zhang Guohua ernannt, ethnisch kein Tibeter, sondern ein Chinese. Bis heute hat diese wichtigste Machtposition Tibets ein Han-Chinese inne. Von echter Selbstbestimmung könne nicht die Rede sein, sagt Nadine Baumann, Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland:
    "Die Tibeter haben zwar Selbstverwaltung, sitzen auch in einigen Schlüsselpositionen - das sind dann aber alles Leute, die linientreu sind zu Peking. Die Tibeter selbst haben überhaupt nichts zu sagen im Land, sie können nicht über ihre Rechte verfügen. Sie dürfen nicht frei entscheiden und werden repressiv unterdrückt."
    Dalai Lama fordert echte Autonomie
    Auch die Grenzen der Autonomen Region Tibet sind umstritten. Die tibetischen Gebiete der angrenzenden Provinzen wurden 1965 nicht der neuen Provinz zugeschlagen, die Autonome Region Tibet ist also deutlich kleiner als das historische Tibet. Die tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser, die in Peking unter den Argusaugen der Sicherheitsbehörden lebt:
    "Für viele Menschen ist Tibet einfach die Autonome Region Tibet. Doch ich denke, alle Gebiete, in denen Tibeter leben, sollten dazu gehören. Die geografische Definition muss geklärt werden."
    Auf die Gründung der Autonomen Region folgten ab 1966 die Schrecken der Kulturrevolution, als Rote Garden Klöster und Tempel zerstörten. In den 1990er-Jahren gab es zwar etwas Entspannung, dann wieder Härte: Aufstände wie die von 2008 wurden blutig niedergeschlagen. Zugleich betreibt Peking in Tibet einen radikalen Kurs der Modernisierung. Wirtschaftliche Entwicklung soll Stabilität schaffen.
    Jedes Jahr bei der Tagung von Chinas Scheinparlament trägt die tibetische Delegation neue Erfolge vor: Wachstum, Steigerung der Einkommen, mehr Industrie. Andernorts beklagen Aktivisten die Zerstörung der tibetischen Kultur und Religion. Für Tsering Woeser ist wirtschaftliche Entwicklung allein nicht alles:
    "Welche Art der Modernisierung brauchen die Tibeter? Was sie brauchen, ist Modernisierung, gepaart mit einem hohen Maß an Autonomie. Erst wenn wir Tibeter selbst entscheiden können, was wir brauchen und was nicht, heißen wir die Modernisierung willkommen."
    Auch der Dalai Lama im indischen Exil fordert echte Autonomie: keine Unabhängigkeit, aber auch keine Kontrolle durch Peking. Doch Staatschef Xi Jinping hat diesen "Mittelweg" gerade erst wieder als Versuch der Abspaltung verunglimpft. Nur: Wie schwer es ist, das Hochland zu integrieren, hatte Chinas Führung bereits 1965 unterschätzt. Heute gibt es zwar Eisenbahnlinien zwischen Peking und Lhasa und Flughäfen auf dem sogenannten Dach der Welt. Doch wirklich näher gekommen sind sich Tibeter und Chinesen nicht. Mehr noch: auf Widerstand - wie auch auf über 100 Selbstverbrennungen von Tibetern - reagiert Peking mit noch mehr Kontrolle und Repression. Was friedliche Befreiung sein sollte, wird bis heute als Besetzung empfunden.