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Vor 50 Jahren erschienen
"Manifest der 2000 Worte"

7.000 Panzer für 2.000 Worte, was für ein gigantisches Geschäft: Dieser bittere Witz kursierte 1968 in der Tschechoslowakei nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten. Er bezieht sich auf ein Manifest des Schriftstellers Ludvík Vaculíks im Prager Frühling. Heute vor 50 Jahren ist es erschienen.

Von Annette Kraus | 27.06.2018
    Einmarsch in Prag am 21. August 1968.
    Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei verschwanden die Reformkommunisten in der Bedeutungslosigkeit (imago)
    "Ich bin davon ausgegangen, was auch realistisch denkende Menschen damals glaubten. Das heißt: Hier ist dieses Regime. Wir können uns nur bemühen, dieses Regime menschlicher zu machen, zu demokratisieren, es zu Verstand zu bringen."
    Das "Manifest der 2000 Worte" erschien mitten in einem Reformprozess. Seit Januar stand mit Alexander Dubček ein Gemäßigter an der Spitze der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft planten eine vorsichtige Liberalisierung. Im März wurde die Zensur aufgehoben, im April folgte ein "Aktionsprogramm" der KPČ.
    "Es war Prager Frühling, darf man nicht vergessen. Alles war frei, und alles war easy plötzlich. Es wehte ein ganz anderer Wind."
    Die Sängerin Yvonne Přenosilová. Ihr größter Hit 1968 war ein märchenhafter Song vom zu Eis erstarrten Winterkönigreich. Mit 21 Jahren war sie die jüngste von 70 Erstunterzeichnern des Manifests.
    "Man hat dann gemerkt, es war wirklich eine Lockerung. Früher gab es Zensur, was die Texte betraf, was die Kleidung betraf. Man hat in alles reingequatscht. Und plötzlich hat man doch den frischen Wind gespürt."
    Die Reformer fühlten sich überrumpelt
    Ludvík Vaculík beschwor die Reformer, den eingeschlagenen Weg fortzuführen. Und er appellierte an die Leser, laut zu werden und den Kommunisten auf die Finger zu sehen.
    "Fordern wir den Rücktritt der Leute, die ihre Macht missbraucht, das öffentliche Eigentum geschädigt, ehrlos und grausam gehandelt haben. Wir müssen sie zum Rücktritt zwingen. Zum Beispiel durch öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen."
    "Mir kam es damals zum damaligen Zeitpunkt als absolut harmlos [vor]. Somit habe ich es leichten Herzens unterschrieben. Aber was dann kam, damit hat kein Mensch gerechnet."
    Noch am Erscheinungstag traf sich die Parteispitze zur Krisensitzung. Die Reformer fühlten sich überrumpelt. Schließlich war das System noch immer totalitär.
    Druck kam von den Konservativen aus der KPČ – und aus Moskau. Erst viel später wurde bekannt, welchen Drahtseilakt Dubček und seine Mitstreiter vollbringen mussten. Alle Verhandlungen blieben ohne Erfolg. Für Breschnew lieferte das Manifest den endgültigen Beweis: Die Tschechoslowakei war der Situation nicht gewachsen.
    "Heute heißt es immer öfter: Habt ihr das nicht gewusst? Dachtet ihr nicht daran, dass die Russen kommen würden? Ich habe nicht daran gedacht. Auch wenn es gefährlich war, musste es getan werden."
    Mehr als Hunderttausend emigrierten in den Westen
    Ludvík Vaculík 40 Jahre später. Das Experiment des Prager Frühlings endete mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968. Yvonne Přenosilová:
    "Das war natürlich dann die größte Überraschung für uns alle, dass die das doch gewagt haben. Ich hab dann nicht mehr zu Hause geschlafen. Man hat gemeldet, die Signateure sollten nicht mehr zuhause schlafen."
    Nach der Invasion verschwanden die Reformen in der Schublade, die Reformkommunisten in der Bedeutungslosigkeit. Mehr als hunderttausend Tschechen und Slowaken emigrierten in den Westen.
    Auch Yvonne Přenosilová verließ die Tschechoslowakei für mehr als 20 Jahre. Ihr Lied vom Winterkönigreich wurde währenddessen legendär.
    "Das war überhaupt nicht als politisches Lied gedacht. Bloß, nach der Okkupation haben die Worte [einen] anderen Sinn gekriegt für die Zuhörer. Und somit wurde es ein Protestsong, plötzlich. Ohne es zu wollen."