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Vor 50 Jahren starb Jean Giono
Der "Vergil der Provence"

In Frankreich ist mit dem Namen des Schriftstellers Jean Giono die karge Landschaft der Provence verbunden. Ende des 19. Jahrhunderts in ärmlichen Verhältnissen geboren, wurde er nach traumatischen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten. Berühmt wurde er mit seinem Roman „Der Husar auf dem Dach“.

Von Björn Stüben | 09.10.2020
    in schwarz-weiß Porträt-Foto des Schriftstellers Jean Giono an seinem Schreibtisch mit Pfeife und vor vollem Bücherregal. dans sa maison de Manosque. ©Renaud/Leemage |
    Jean Giono in seinem Haus in Manosque (picture-alliance / ©Renaud/Leema)
    "In den Bergen bin ich zuhause. Ich mag das Meer nicht, es ist mir zuwider. In Manosque mache ich immer Spaziergänge nach Osten, um zu erleben, wie die Hügel plötzlich den Blick freigeben und im Tal der Durance die große blaue Opalschale auftaucht, in der sich die Alpen wie riesige Zuckerwürfel aufeinander türmen."
    Fast sein ganzes Leben verbrachte der französische Schriftsteller Jean Giono in Manosque im Departement Alpes-de-Haute-Provence, wo er 1895 in ärmlichen Verhältnissen geboren wurde. In der Hochprovence spielen alle seine Romane, die er seit 1929 verfasste, nachdem er seinen Posten als Bankangestellter gekündigt hatte, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sein erster Roman "Hügel" erschien als Auftakt zu seiner sogenannten Pan-Trilogie. In den Mittelpunkt stellte er, wofür der Hirtengott Pan in der Antike zuständig war: die Natur mit ihren Wäldern, Wiesen, Gebirgen und Flüssen, ihren Tages- und Jahreszeiten. Bei Giono erscheint sie rau und unberechenbar, aber auch idyllisch und friedlich.
    Ein Totsle zeigt das satte lila eines blühenden Lavendelfelds in den provenzialischen Montagne de Lure, Departament  Vaucluse. 
    Satte Hochprovence: blühendes Lavendel-Feld nahe Manosque (picture alliance)
    Er verarbeite nicht die Wirklichkeit, sagte Giono einmal, "sie behindert mich. Doch ich brauche sie, um Geschichten und Figuren zu erfinden."
    Sprachgewaltig erzählte er in seinem 1934 erschienenen Roman "Das Lied der Welt" die dramatischen Abenteuer des wilden Naturburschen Antonio, der erst neben seiner Angebeteten, der blinden Klara, zur Ruhe kommt. Giono strukturierte diese Geschichte mit an Metaphern reichen Schilderungen der Jahreszeiten vor der grandiosen Kulisse der Hochprovence:
    "Der Regen jagte welke Blätter über den Weg. Das ernste Lied der Tannen, mit ihren dunklen Gängen, in denen es bei jedem Windstoß hallte, das Glucksen der Quellen, die in den Wiesen aufbrachen, der Bächlein, die mit langen funkelnden Zungen nach dem Grase leckten, alles war Öde und Verlassenheit. Der Regen fiel schwer und gleichmäßig."
    Trauma der Schlacht von Verdun
    In allen seinen Romanen räumt Giono der Natur seiner Kindheit den größten Raum ein. Denn der Erste Weltkrieg, den er als Soldat in Verdun durch- und überlebt hatte, bedeutete für ihn Trauma und Desillusion. So entwarf er 1935 in "Bleib meine Freude" das Bild des einfachen, naturverbundenen Landlebens in Gemeinschaft, das bei seiner Leserschaft gut ankam, wie sich Gionos enger Freund Henri Fluchère später erinnerte:
    "Giono erhielt viel Besuch gegen Ende der 30er-Jahre, denn er war zu Berühmtheit gelangt, hatte viele Bücher geschrieben, die vor allem auch jungen Leuten gefielen. Er hatte großen Respekt vor dem Individuum. Vor allem aber hasste er den Krieg. Er war erklärter Pazifist und verabscheute die Misere und das Leid, das der Krieg hervorbringt. Hierfür wurden er und seine Werke verehrt."
    Das Bild "Bauernhaus in der Provence" von can Gogh: Grüne Wiesen, im Hintergrund sieht man ein Bauernhaus, Ölgemälde.
    Bauern in der französischen Literatur: Ein Abgesang auf eine traditionelle Lebensform
    Schon Honoré de Balzac und Émile Zola erzählen von Bauern, die ihre Familien in den Abgrund stürzen. Und viel später schreibt Jean Giono, einzig Hass und Neid verbänden die Familien, die im 20. Jahrhundert von der Landwirtschaft lebten.
    Das Opus Magnum: "Der Husar auf dem Dach"
    Gionos Anhängerschaft traf sich in dem kleinen Bergdorf Le Contadour. Doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fanden die Treffen ein jähes Ende. Jetzt sollten es das Vichy-Regime und vor allem die deutschen Besatzer sein, die Gionos Werke in höchsten Tönen lobten. Aus dem Blickwinkel der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten wurden sie als Hymne an bäuerliche Lebensformen interpretiert und instrumentalisiert. Giono erkannte das, wehrte sich jedoch nie direkt dagegen. 1944 wurde er der Kollaboration bezichtigt und erhielt bis 1947 Publikationsverbot. 1952 erschien sein Meisterwerk "Der Husar auf dem Dach", in dem Giono die Cholera-Epidemie in Manosque von 1832 thematisierte. Die Dorfbewohner sehen in Angelo Pardi, dem fremden Husaren aus Piemont, den Brunnenvergifter. Um dem Hass und der Panik der Bevölkerung zu entkommen, flüchtet er sich auf die Dächer der Stadt. Über das Buch sagte Giono:
    "Die Cholera wird durch das Wort übertragen, durch Angst. Unsere heutige Welt ist von Angst geprägt, und es ist genau diese Welt, die Angelo symbolisch erlebt. Ob sich das Abenteuer 1832 abspielt oder 1952, für mich ist es exakt das gleiche."
    Erstmals bezog sich Giono hier direkt auf die Gegenwart. Der historische Choleraausbruch in der Provence stand als Sinnbild für die Angst der Bevölkerung während des Kalten Krieges. Der Husar wurde Jean Gionos berühmtestes Werk und machte ihn zu einem der wichtigsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Am 9. Oktober 1970 starb der "Vergil der Provence", wie André Gide ihn nannte, dort, wo er 75 Jahre zuvor geboren worden war: in der von Lavendelfeldern umgebenen Kleinstadt Manosque.