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Vor 55 Jahren
Die Eisprozession auf dem zugefrorenen Bodensee

1963 fror der Bodensee das letzte Mal vollständig zu. Zehntausende strömten auf die spiegelglatte Fläche. Sie überquerten den See auf Schlittschuhen, Pferden oder mit dem Fahrrad. Das größte Spektakel aber war die Eisprozession, bei der die Büste des Heiligen Johannes feierlich über den See getragen wurde.

Von Carola Zinner | 12.02.2018
    Ein Aluminiumschild erinnert am 16.01.2013 am Bodenseeufer von Fischbach (Baden-Württemberg) an die Seegfrörne im Jahr 1963. Am 12.02.1963 war der Fischbacher Georg Stärr auf seinem Pferd von Hagnau aus über den zugefrorenen Bodensee nach Münsterlingen in der Schweiz geritten. Stärr gilt seit dem als der "Reiter über den Bodensee" Foto: Felix Kästle/dpa (zu dpa "«Seegfrörne» lockt vor 50 Jahren Wagemutige über das Eis" vom 21.01.2013) | Verwendung weltweit
    Seegfrörne von 1963 - der Bodensee fror komplett zu (dpa / Felix Kästle)
    Eine Schneelandschaft, weit und flach. Aus dem Grau des Horizonts taucht ein Reiter auf. Dahinter Fahnen, ein Kreuz, die rotweißen Gewänder von Ministranten. Und dann diese schier unendliche Menge von Menschen.
    Kirchliche Prozessionen sind im Süden Deutschlands keine Seltenheit. Diese jedoch ist es. Denn ihr Weg führt sie an diesem 12. Februar quer über den Bodensee. Es ist das Jahr 1963 - ein Jahr der "Seegfrörnen", wie es die Einheimischen nennen.
    "Das bedeutet, dass 473 Quadratkilometer des Obersees komplett überfroren sind."
    Fridolin Altweck ist Heimatpfleger in Wasserburg am Bodensee, wo in der Sankt-Georgs-Kirche mehrere steinerne Tafeln an das seltene Naturschauspiel erinnern: "Im Jahr Christi 1573 ist der ganz Bodensee überfroren, dass man uns allen und jeden insunders umliegende Städten und Fleckerz ´Fueß drauf gwandelt ist", so heißt es auf der ältesten der Tafeln. Sie soll den Dichter Gustav Schwab inspiriert haben zu seiner berühmten Ballade vom Reiter und dem Bodensee.
    "Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt, der Weg wird eben, die Bahn wird glatt."
    Eine Oase in der weißen Wüste
    Während der ahnungslose Reiter das Eis offenbar in einsamer Stille überquerte, bevor ihn nachträglich vor Schreck der Schlag traf, war die "Seegfrörne" von 1963 ein recht turbulentes Ereignis. Fahrradfahrer und Würstchenbuden, doppelmotorige Flugzeuge und Schlittschuhläufer, und mittendrin, alles überragend wie eine Oase in der weißen Wüste: die Insel Mainau.
    "Dann ist natürlich hier ein See ohne Grenzen - das ist eigentlich ein richtig schöner Akt, wenn die Schweizer rüberkommen nach Bayern oder Württemberg, wenn die Österreicher rüberkommen über den See von Bregenz aus, wenn man sich auf der Eisfläche begegnet."
    Die Anliegergemeinden überboten sich im Bemühen, das denkwürdige Ereignis noch denkwürdiger zu machen. Da gab es den Tanz der Schäffler auf dem See, die Überlinger Fastnachtsnarren, fahnenschwenkend und in voller Montur.
    Sogar eine Gemeinderatssitzung wurde aufs Eis verlegt. Schwarze Anzüge und Zylinder: Der Bürgermeister von Nonnenhorn Ottmar Herzer weiß, was er der Nachwelt schuldig ist.
    "Es hat sich dann herausgestellt, dass diese Gemeinderatssitzung ein ausgesprochener Erfolg war. Und anschließend sind wir dann in die wärmende Gaststätte gegangen."
    Vorerst keine Seegfrörne mehr wegen Klimawandel
    Das größte Schauspiel aber bot die Eisprozession, bei der die Büste des Heiligen Johannes feierlich über den See getragen wurde. Warum, das wusste vermutlich niemand mehr so genau, aber darauf kam es auch gar nicht an. Wichtig war es, der Tradition zu folgen, die mit der "Seegfrörnen" von 1573 begonnen hatte.
    "Da wurde erstmalig die Büste des Heiligen Evangelisten Johannes in einer Eisprozession von der Klosterkirche in Münsterlingen - das ist also in der Schweiz - nach Hagnau in Baden gebracht. Und die haben sie entweder dort vergessen oder bewusst zurückgelassen. Und dann hat man warten müssen bis zur nächsten ‚Seegfrörne‘ und 1684 kehrte sie in einer weiteren Eisprozession nach Hause nach Münsterlingen zurück und gelangte dann 1796 wieder nach Hagnau."
    Und so weiter. 1963 wanderte der Heilige wieder mal zurück in die Schweiz und wartet nun in der Münsterlinger Klosterkirche auf den nächsten Ausflug über den See. Das könnte allerdings noch dauern, da sind sich Fridolin Altweck und Thomas Anzenhofer, Wetterexperte beim Bayerischen Rundfunk, völlig einig.
    "Dafür müsste es schon einen extremen Winter geben, und bei der letzten 'Seegfrörnen' ging die Kälteperiode ja schon im Oktober los. Kälte alleine reichte aber nicht, es muss sehr lange kalt sein, und es darf kein Wind wehen."
    "In Folge des Klimawandels wird’s vermutlich in unserer Lebenszeit keine 'Seegfrörne' mehr geben."