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Vor 70 Jahren entstand Eisenhüttenstadt
Politisches Projekt mit ideologischem Anspruch

Eisenhüttenstadt war die erste sozialistische Planstadt - erbaut für die Arbeiter des Eisenhüttenkombinats. Heute ist die Stadt mit ihrem einmaligen Bauensemble das größte Flächendenkmal Deutschlands. Der Bürgermeister will daran jedoch nicht erinnern. Dabei schwärmen sogar Hollywoodstars von "Iron Hut City".

Von Christoph D. Richter | 23.09.2020
Mosaik mit Friedenstaube von Walter Womacka am Linden-Zentrum in Eisenhüttenstadt
Mosaik mit Friedenstaube von Walter Womacka am Linden-Zentrum in Eisenhüttenstadt (imago/epd-bild/Rolf Zöllner)
"Im Auftrage der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vollziehe ich die feierliche Namensgebung: Die erste sozialistische Stadt in der Deutschen Demokratischen Republik erhält den Namen Stalinstadt", so SED-Chef Walter Ulbricht am 7. Mai 1953. Die Stadt, um die es hier ging, war zuerst die sogenannte Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost, dann also hieß sie Stalinstadt, 1961 umgetauft in Eisenhüttenstadt. Den Startschuss für diese erste "Sozialistische Planstadt" – wie es damals hieß – lieferte ein Beschluss des 3. Parteitags der SED.
Am 23. September 1950, also vor 70 Jahren, wurde im märkischen Kiefernwald mit dem Bau einer Barackenstadt begonnen – dem Vorläufer von Eisenhüttenstadt. Es war die Geburtsstunde einer sozialistischen Idealstadt, eng verwoben mit dem Stahlwerk. Heute ist Eisenhüttenstadt in Brandenburg das größte Flächendenkmal Deutschlands.
DOK-Zentrum Eisenhüttenstadt 2013 Dokumentationszentrum Alltagskultur in der DDR in der Erich-Weinert-Alllee
Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR - "Wie ein verfremdeter oder fremder Alltag"
Erinnern mit Hilfe von Alltagsgegenständen: Das "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttensatdt sammelt vom Fotoalbum über Kleidung und Spielzeug alles, was an die Zeit im Sozialismus erinnert.
Der Architekturkritiker Wolfang Kil: "Die DDR musste sich nach dem Krieg für ein Wiederaufbaukonzept entscheiden. Das hat man in Ost-Berlin repräsentativ mit der Stalinallee gemacht. Um aller Welt zu zeigen, wo es langgehen soll. Gleichzeitig ist die ökonomische Grundlage – ein Stahlwerk – zu bauen gewesen. Da werden Arbeiter gebraucht, die müssen irgendwo wohnen. Also musste eine Stadt her. Auch da war es zeitgleich so, dass man auch da zeigen wollte, wo es langgeht."
Magistralen statt Marktplätze
Eisenhüttenstadt sei ein Repräsentations-Modell der Ost-Berliner Machthaber und der gesamten SED-Diktatur gewesen, so Kil: "Was dann gezeigt wurde, klang verdächtig nach Einfluss aus Moskau. Das war zu der Zeit die Mode." Eisenhüttenstadt ist keine gewachsene Stadt, sondern wurde am Reißbrett geplant und aus dem Boden gestampft. Gebaut wurde im Stil des Sozialistischen Klassizismus, andere sprechen etwas abschätzig vom Zuckerbäckerstil: Viele der monumentalen Gebäude sind mit Ornamenten verziert. Die einzelnen Stadtteile heißen hier "Wohnkomplexe".
Wolfgang Kil: "Diese Stadt, in großen Menschenmengen im Freien in Besitz zu nehmen und zu bespielen, das war damals schon ein wichtiges Anliegen. Und deshalb gibt es hier auch so viele freie Flächen." Die freien Flächen waren als innerstädtische Aufmarschräume angelegt worden. Statt Marktplätzen und kleinen Gassen durchziehen breite Magistralen die Stadt. Das sieht so aus, als könnten hier Flugzeuge landen.

Keiner der Bewohner damals sollte an die Not des Wohnungsmangels und die Zustände in dunkel-feuchten Mietskasernen des 19. Jahrhunderts erinnert werden. Die sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt sollte – so die Idee der SED-Genossen - den Aufbruch in eine neue Zeit symbolisieren: "Planstadt heißt nicht Arme-Leute-Stadt. Sondern: Planstadt heißt ja eigentlich Paradies auf Erden. Und wenn man sich anguckt, was daraus geworden ist, zumindest was die grünen Innenhöfe angeht, dann hat das schon was Paradiesisches. Wenn man sich überlegt, wie wir heute über die Neubaustädte der 70er/80er Jahre stöhnen. Hier stöhnt keiner. Die grünen Innenhöfe gelten als sehr lebenswert."
Rathaus von Eisenhüttenstadt
Breite Magistralen statt Marktplätze und kleine Gassen: Blick auf das Rathaus von Eisenhüttenstadt (Dlf/Christoph D. Richter)
Wohnungen für die Stahlkocher
Bei einem Spaziergang durch Eisenhüttenstadt gibt es viel zu entdecken: Arkaden, Durchgänge, Grünanlagen, detailreich verzierte Fassaden. Alles streng symmetrisch angeordnet. Auf den Rasenplätzen hinter oder vor den Häusern stehen kleine Bronze-Plastiken, die immer etwas Heroisches ausstrahlen. Die Gaststätte "Aktivist", die Kaufhallen, das Friedrich-Wolf-Theater – es gibt die Gebäude alle noch.
Der Masterplan für die erste Bebauung stammte vom Architekten Kurt Walther Leucht, der zuerst in der NS-Diktatur und nahtlos daran anschließend in der DDR Karriere machte. Eisenhüttenstadt ist auch ein Ergebnis des Kalten Krieges: Die DDR brauchte Stahl, vom Ruhrgebiet war man wegen der Teilung Deutschlands abgekoppelt. Wirtschaftliche Selbstversorgung war obendrein eine sowjetische Doktrin.

Aus logistischen Gründen entstand das Stahlwerk in der Nähe des mittelalterlichen Örtchens Fürstenberg an der Oder, an der Einmündung des Oder-Spree-Kanals. Was fehlte, waren Wohnungen, weshalb man – mitten in die märkische Heide – eine Stadt baute: für die jungen Fachkräfte, die Stahlkocher, die man in den tiefen Osten holte. Es entstand eine Siedlung nach dem Vorbild ähnlicher Industrie- und Wohnstädte in der Sowjetunion. Der Ort Fürstenberg wurde später eingemeindet.
Friedrich-Wolf-Theater in Eisenhüttenstadt 
Alle damals errichteten Gebäude stehen noch: das Friedrich-Wolf-Theater (imago/Jürgen Ritter)
Begleitet wurde der Bau von einer gehörigen Portion Propaganda, hier in einer Radio-Reportage: "Reporter: Lassen wir den Oberschmelzer Schmidt von einem Besuch einer westdeutschen Delegation berichten. - Oberschmelzer: ‚Da sagt der, kann man sich mal eure Wohnung ansehen? Da sag ich, klar kannst du dir die Wohnung ansehen. Da sagt er, diese verfluchten Schweine. Uns haben sie gesagt, ihr habt Papier vor den Fenstern. Da sagt er, was zahlt ihr denn an Miete? Ich sag, ich zahle 36 Mark und 40 Pfennig. Für das alles hier? Ja. Weißte du was du für so eine Wohnung bei uns bezahlst? 80 Mark mindestens. – Reporter: Das sind die Menschen unseres Eisenhüttenkombinats."
Politisches Projekt mit ideologischem Anspruch
Eisenhüttenstadt als Planstadt war auch ein Paradebeispiel für den Wettbewerb der Systeme im Kalten Krieg – der sich eben auch in der Architektur und im Städtebau manifestierte. Es entstand eine eigene sozialistische Architektur – auch als Gegenmodell zur Nachkriegsmoderne im Westen. Eisenhüttenstadt war ein politisches Projekt mit ideologischem Anspruch: Die sozialistische Stadt sollte das kollektivistische Miteinander fördern, das Individuum hatte sich unterzuordnen.
EKO-Stahlwerk in Eisenhüttenstadt im Landkreis Oder-Spree im Bundesland Brandenburg
Eine Stadt für die Arbeiter des Stahlwerks (imago/Jürgen Ritter)
Abweichler hatten es schwer, erzählt Ben Kaden. Der studierte Bibliothekswissenschaftler und Blogger verbrachte seine Kindheit und Jugend in Eisenhüttenstadt: "Eisenhüttenstadt ist sehr kollektivistisch ausgelegt. Das heißt, die Hausgemeinschaft zum Beispiel – so nannte man alle Leute, die in einem Aufgang wohnten – die standen zusammen, mehr oder weniger verordnet als Verband. Und haben auch gemeinsame Aktivitäten gemacht. Man hat immer ein bisschen unter Beobachtung gelebt. Das war in Eisenhüttenstadt in vielen Ecken ins Programm eingeschrieben. Man musste sehr viel Energie investieren, um sich zu individualisieren. Für viele Leute – gerade in einer homogenen Gesellschaft wie Eisenhüttenstadt – war es eine sehr willkommene Sache. Weil man sich auf der anderen Seite auch nicht so sehr viele Gedanken machen musste."
Wohnen, Freizeit und Arbeit standen in einem engen Zusammenhang, erläutert Andreas Ludwig, Historiker und Gründer des Dokumentationszentrums "Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttenstadt - eine Sammlung, die DDR-Geschichte als Erinnerungskultur zusammenträgt. "Man hat eine kompakte Stadt gewollt. Im Gegensatz zu den Bauhaus-Ideen einer flächigen Stadt, die sich zersiedelt. Man wollte eine Stadt, die nach sozialistischen Vorzeichen funktioniert. Es gibt keine Privat-Geschäfte in Stalinstadt damals. Aber dafür gibt es eine gute Versorgung mit Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen. Ein Kulturhaus ist nicht gebaut worden, aber ein Kino, was als Kulturhaus genutzt worden ist. Man wollte sich ganz bewusst von bürgerlichen Gesellschaftsideen natürlich abgrenzen."
Stadt ohne Kirchtürme
Grundlage dafür waren die sogenannten "16 Grundsätze des Städtebaus", in denen die stadtplanerischen Prinzipien der SED-Diktatur formuliert waren. Eines davon: Die sozialistische Stadt hatte ohne kirchliche Einrichtungen auszukommen. Während andernorts Kirchen gesprengt und abgerissen wurden – in Potsdam die Garnisonkirche, in Leipzig die Universitätskirche beispielsweise – sollte in Eisenhüttenstadt eine Kirche erst gar nicht entstehen.

"Ja, wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen", so SED-Chef Walter Ulbricht am 7. Mai 1953 in seiner berühmten Turm-Rede. Deutlich wird an dieser Stelle der von der SED betriebene Kirchenkampf. Daher durfte in der Topographie der ersten sozialistischen Planstadt auch kein Symbol der christlichen Kirche stehen.
Den Kirch-Turm gibt es bis heute nicht. Stattdessen steht ein großes Stahlgerüst mit drei Glocken neben dem Gemeindehaus der evangelischen Friedensgemeinde. Christel Jachning ist Gemeindemitglied seit Anfang der 1960er Jahre, sie erinnert sich: "Erst in einem Zelt, dann in einem Zirkuswagen und dann ist eine Baracke auf dem Platz gebaut worden. Eine Kirch-Baracke. Es war voll, es war immer voll. Denn Eisenhüttenstadt hat sich ja personen-mäßig, bevölkerungs-mäßig, zusammengesetzt aus Personen aus der ganzen DDR. Da waren ja auch Christen dabei, nicht nur Atheisten."
Die in der DDR legendäre Großgaststätte "Aktivist" in Eisenhüttenstadt
Die in der DDR legendäre Großgaststätte "Aktivist" in Eisenhüttenstadt (imago/ epd-bild/Rolf Zöllner)
Die Bundesrepublik finanzierte das Gemeindezentrum
"Das war ein sehr schwerer Kampf, sehr schwer", ergänzt die 59-jährige Marion Kaufmann. "Und die Katholiken durften irgendwann auch eine Baracke bauen, die wurde über Nacht eingerissen, weil Leute aufgewiegelt wurden; gegen die Christen, gegen die Kirche." Dass es überhaupt etwas wurde mit der Kirche in Eisenhüttenstadt – das lag vor allem am Engagement des evangelischen Pfarrers Heinz Bräuer, dem ersten Pfarrer der Friedensgemeinde. 2007 ist er gestorben, als Ehrenbürger von Eisenhüttenstadt. Doch zu DDR-Zeiten musste er für seine Gemeinde kämpfen.
Er habe sich permanent mit den Genossen angelegt, berichtet Christel Jachning: "Aber die Kirche hat sich durchgesetzt. Und Pfarrer Bräuer hatte unendlich viele Christen gesammelt. Der hat ja Türklinken geputzt. Der ist von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung gegangen. Hat alle Leute begrüßt, und hat eine richtig starke, gute Gemeinde aufgebaut." Ende der 1980er Jahre hatte die Gemeinde 5.000 Mitglieder, heute sind es etwas mehr als 1.000.
Ab 1976 – im Rahmen des Bauprogramms für Kirchen in Neubaugebieten - entstand in Eisenhüttenstadt ein Gemeindezentrum. 1981 wurde es eingeweiht. Kosten: 1,8 Millionen D-Mark, bezahlt von der Bundesrepublik. Marion Kaufmann: "Es war ja auch so, dass die DDR Ende der 1970er Jahre dringend Valuta brauchte. Und da hat man sich mit der West-Kirchenleitung geeinigt, dass in Neubaugebieten Kirchen gebaut werden dürften. Im Austausch dafür, dass eben jede Menge Valuta in die DDR floss."
Schrumpfende Stadt
Aber gut sichtbar ist das Gemeindezentrum bis heute nicht, sondern es liegt versteckt am Rand der Stadt. Die Genossen hätten immer mit Argwohn geschaut, wenn auf dem Gelände Gemeindefeste stattfanden, berichtet Marion Kaufmann.
50.000 Einwohner hatte Eisenhüttenstadt 1989, heute sind es nur noch halb so viele. Tendenz weiter sinkend. Keine Stadt in Brandenburg schrumpft schneller, 2030 werden in Eisenhüttenstadt nach einer Schätzung des Landes nur noch gut 20.000 Menschen leben. Junge Leute sieht man so gut wie gar nicht. Jeder zweite Einwohner ist über 55. Die Straßen sind leer.
Saarlouiser Strasse in Eisenhüttenstadt
Nur noch wenige Geschäfte sind geöffnet - die Saarlouiser Straße (imago/epd-bild/Rolf Zöllner)
"So in meinem Alter – Mitte 40 – fühlt man sich noch als einer der Jüngeren. Finde ich schon krass. Man findet immer einen Parkplatz", sagt Sabine Rennefanz. Sie ist Autorin und Journalistin bei der Berliner Zeitung. In Eisenhüttenstadt ist sie zur Schule gegangen, sollte zur Staats-Elite ausgebildet werden. Dann kam der Mauerfall. Seitdem beobachtet Sabine Rennefanz, wie die Stadt sich verändert: "Das Gefühl von etwas, das zu Ende geht. Ist schon deprimierend."
Sabine Rennefanz dreht sich um. Wo sie auch hinschaut: Leere. So wirke die sozialistische Architektur mit den breiten Straßen und den repräsentativen Fassaden noch bombastischer, sagt sie. In der Haupteinkaufsstraße, der Lindenallee, früher Leninallee, sind nur wenige Läden geöffnet. Andere sind ganz geschlossen, viele haben die Schaufenster mit Folien abgedeckt. Ab 17 Uhr sind in Eisenhüttenstadt – außer im Einkaufszentrum - alle Geschäfte geschlossen, samstags macht kaum ein Laden auf.
Hotel Lunik - Ruine unter Denkmalschutz
Sabine Rennefanz: "Mein Vater, der ist ja hier ganz in der Nähe aufgewachsen. In den Häusern hinter dieser Ladenstraße. Meine Oma hat in dem Schreibwarenladen gearbeitet. Da war in der Straße die Hölle los. Es waren alle Läden voll, und es waren viele Leute auf der Straße. Das war natürlich ein anderes Gefühl."
Ruine des "Hotel Lunik" in Eisenhüttenstadt im Landkreis Oder-Spree im Bundesland Brandenburg
Eine Ruine unter Denkmalschutz: Das "Hotel Lunik" (imago/Jürgen Ritter)
Ganz besonders blute ihr das Herz, wenn sie das "Hotel Lunik" sieht, sagt die Journalistin. Wie ein hohler Zahn steht es mitten in Eisenhüttenstadt, ein Zeugnis des Verfalls. Die Scheiben sind eingeschlagen, der Putz blättert ab, ganz oben hat jemand auf die Scheiben "I love EHST" gepinselt: Ich liebe Eisenhüttenstadt. Eine Ruine unter Denkmalschutz: "Mein Onkel und meine Tante haben da geheiratet. Da fanden immer Familienfeiern statt. Das war so ein ganz schickes Hotel. Jetzt steht es seit gefühlten Ewigkeiten, seit vielen Jahren leer. Und verfällt so vor sich hin. Ist eigentlich eine Schande."
Der Bürgermeister will kein Freilichtmuseum
Wer mit dem Zug nach Eisenhüttenstadt kommt, darf sich nicht abschrecken lassen. Das Bahnhofsgebäude ähnelt ebenfalls einer Ruine. Die Unterführung ist voller Grafitti, es riecht streng. Der Vorplatz ist zugig, kein Ort zum Verweilen. Kürzlich hat das einzige Kino der Stadt geschlossen, es hat die Corona-Pandemie nicht überstanden. Deutlich wird: Das Schicksal der Stadt hängt am Stahlwerk. Einst arbeiteten hier 12.000 Menschen, heute sind es noch 2.700. Wenn das Werk allerdings schließen müsste, dann dürfte es auch mit Eisenhüttenstadt aus sein, der ersten sozialistischen Stadt der DDR.
Doch genau mit diesem Szenario kann der SPD-Bürgermeister Frank Balzer wenig anfangen. Ein schlaksiger Typ, gebürtiger Eisenhüttenstädter, der immer noch an der Vision einer Industriemetropole festhält: "Einerseits bleiben wir metallurgisches Zentrum mit dem Stahlwerk. Andererseits haben wir den Fokus, dass wir auch die medizinische Versorgung voranbringen wollen. Wir haben eine sehr gute Schule für Gesundheitsberufe. Und es ist ja allgemein bekannt, dass es in Deutschland und Europa Engpässe bei der Pflege gibt. Und wir wollen das als Schwerpunkt-Projekt nehmen. Um damit auch jungen Menschen die Chance zu bieten, hier zu lernen, hier zu studieren, um die Stadt etwas jünger zu machen."
Das weltweit einzigartige Erbe – die erhaltene Wohnstadt im Stil der sogenannten "Nationalen Bautradition" der DDR – kommt in der Aufzählung von Rathaus-Chef Balzer nicht vor. Für ihn kein Aushängeschild. Zudem wolle er aus Eisenhüttenstadt keine Museumsstadt machen. Wohl auch deshalb gibt es bis heute nur wenige Informationstafeln oder Schilder über das Besondere dieser Stadt.
"Mehr Stolz entwickeln"
Andere Städte werben für ihre sehenswürdige Architektur oder geschichtsträchtige Baudenkmäler – nicht so in Eisenhüttenstadt: "Menschen wohnen nicht gern in einem Museum, man will auch Attraktivität haben. Wir werden beides versuchen zu verbinden, vernünftig. Dass wir zeigen, wie eine Modellstadt mal aussah. Aber, andererseits sollen die Menschen attraktiv wohnen."
Aber ein Freilichtmuseum werde er nicht aus Eisenhüttenstadt machen. Wenn Architekturkritiker Wolfgang Kil diese Worte hört, treibt es ihm die Zornesfalten ins Gesicht: "Das ist für mich total unverständlich. Da versagt er auch als Bürgermeister. Er sollte viel mehr Stolz entwickeln, das Material gibt es her. Eine klassische Touristenstadt wäre da schon weiter. Man muss ja kein Zaun drum machen und Eintritt erheben. Aber dass Menschen hierherkommen, weil sie das sehen wollen und zwar aus der ganzen Welt, zumindest aus ganz Europa, das ist ganz normal. Das passiert schon seit ein paar Jahren. Und das ist wünschenswert."

Und Kil erinnert an den Besuch von Tom Hanks in Eisenhüttenstadt. 2011 war der Schauspieler in – wie Hanks sagt – "Iron Hut City". Und hat die Werbetrommel gerührt, in der Fernsehshow von David Letterman: "Eisenhüttenstadt – a fascinating place. I love going there. A lot of cement…." 2014: Bei einem weiteren Besuch von Tom Hanks in der SED-Musterstadt kaufte der Hollywood-Star einen Trabbi.
US-Schauspieler Tom Hanks steht in Eisenhüttenstadt (Brandenburg) vor einem Trabant
Hollywoodstar Tom Hanks kaufte bei seinem zweiten Besuch in Eisenhüttenstadt einen Trabbi (dpa/Moz/Gerd Markert)
Wolfang Kil: "So etwas hat es immer wieder gegeben. Auch im Kampf um das Ostmoderne-Denkmal Prager Straße in Dresden mussten irgendwelche Rockstars kommen, dort open-air auftreten. Und dann plötzlich guckt der Rest der Welt auf die Prager Straße. Genauso ist es hier. Das passiert immer wieder mal. Es ist ein Pfund, mit dem man wuchern kann."
Zwischen depressiver Grundstimmung und Zukunftshoffnung
Bis heute fehlten allerding tragfähige Leitlinien, wo sich die Stadt in zwanzig, dreißig Jahren sieht, meint Eisenhüttenstadt-Kenner Wolfgang Kil. Denn - ob das Stahlwerk auf lange Sicht in Eisenhüttenstadt bleibt - ist ungewiss. Die Corona-Pandemie hat auch am Standort Eisenhüttenstadt tiefe Einschnitte hinterlassen, man rechne im Stahlgeschäft mit Umsatzeinbußen von 30 Prozent, heißt es in einer Mitteilung.
Die Grundstimmung in der Stadt sei depressiv, sagt der gebürtige Eisenhüttenstädter Ben Kaden: "Es ist nicht so, dass ich das große Feuerwerk der Signale sehe, hier eine neue Interpretation, Erzählung für die Stadt zu schaffen, die zukunftsgerichtet ist." Bürgermeister Frank Balzer hingegen gibt sich zuversichtlich: Er setzt auf Elon Musk, den Tesla und das Autowerk in Grünheide. Sozialdemokrat Balzer glaubt, dass auch Eisenhüttenstadt davon profitieren werde.
Die einstige sozialistische Musterstadt Eisenhüttenstadt, sie sei auch nach 70 Jahren noch lebendig: "Also meine Hoffnung ist, dass sich die Stadt als Wirtschaftszentrum weiterentwickelt. Wir sind ja ein Industriestandort, einer der wenigen, die es noch gibt in Deutschland. Die Stadt stirbt nicht."