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Vor 75 Jahren
Als der Alliierte Kontrollrat eine Direktive zur Entnazifizierung erließ

Am 12. Oktober 1946 erließen die Militärgouverneure der vier Besatzungszonen ihre "Kontrollratsdirektive Nr. 38". Damit sollte die beschlossene Entnazifizierung Deutschlands vereinheitlicht werden: 13 Millionen Deutsche wurden per Fragebögen erfasst. Historiker ziehen eine ernüchternde Bilanz.

Von Bernd Ulrich | 12.10.2021
    Anonymisiertes Entlastungs-Zeugnis (Clearance Certificate), ausgestellt am 26.08.1947 von dem Deutschen Entnazifizierungs-Ausschuss im ehemaligen Kreis Detmold in der britischen Zone, aufgenommen am 22.09.2018. Solche Entnazifizierungs-Ausschuesse entschieden die leichteren Faelle, Faelle von Angehoerigen verbrecherischer NS-Organisationen wurden von sogenannten Spruchkammern entschieden. Foto: Matthias Toedt/dpa-Zentralbild/ZB/picture alliance
    Anonymisiertes Entlastungs-Zeugnis (Clearance Certificate), ausgestellt am 26.08.1947 von dem Deutschen Entnazifizierungs-Ausschuss im ehemaligen Kreis Detmold in der britischen Zone (picture alliance/ZB/Matthias Toedt)
    "Da saß oder stand er nun, der Parteigenosse von gestern, demütig geschrumpft auf die Hälfte seines gerade verblichenen Herrenmenschentums. Es war ein Schauspiel zum Gotterbarmen!"
    Was Ralph Giordano einst in einem Vortrag charakterisierte, spielte sich 1946 überall in den alliierten Besatzungszonen ab.

    Wie über acht Millionen NSDAP-Mitglieder entnazifizieren?

    Vor rasch eingerichteten Spruchkammern und angeordnet von den Alliierten, sollte der Generalverdacht belegt werden, wonach alle Deutschen potenzielle Nazis gewesen waren. Ein Verdacht, der angesichts des fanatischen Widerstands und der bedingungslosen Unterstützung des Terrorregimes berechtigt schien.
    Das am 5. März 1946 in der amerikanischen Zone erlassene "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" bildete den ernsthaften Versuch, die Entnazifizierung von über acht Millionen Parteimitgliedern in die Wege zu leiten. Dazu der Historiker Clemens Vollnhals:
    "Mit diesem Gesetz wurden dann auch die deutschen Spruchkammern installiert – und diese Spruchkammern sollten nun sozusagen eine Sichtung vornehmen von echten Nazis, von den schweren Fällen, die man auch weiterhin vom öffentlichen Dienst ausschalten wollte, und der großen Masse der Mitläufer."
    Panoramabild der Ausstellung "Who was a Nazi?" aus dem Jahr 2015
    Entnazifizierung 1946 - Demokratie-Grundstein mit durchwachsenem Erfolg
    Am 5. März 1946 legten die Alliierten die Entnazifizierung in deutsche Hände. Sogenannte Spruchkammern sollten die politische Gesinnung von Millionen Deutschen prüfen. Die Entnazifizierung galt lange als missglückter Versuch früher Vergangenheitsbewältigung. Doch die Einschätzung greift zu kurz.
    Als probates Mittel, den Nazis auf die Spur zu kommen, galten umfängliche Fragebögen. 131 Fragen waren gewissenhaft zu beantworten, sonst drohte Bestrafung. Die Gewerkschafterin und Nazigegnerin Margarete Kempe hatte im bayerischen Weißenburg die Aufgabe, die Fragebögen auszuwerten:
    "Ärzte mussten ausfüllen, Richter mussten ausfüllen, die mussten unter Umständen entlassen werden, zum Beispiel beim Landratsamt. Und da habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass der Landrat zu mir kam, um mir vorzujammern, wenn er den Mann nicht mehr hat, dann stürzt das ganze Amt zusammen und wollte also versuchen, das durchzusetzen, dass er den behalten kann."

    Wer war minderbelastet, Mitläufer oder entlastet?

    Am 12. Oktober 1946 trat schließlich die Direktive Nr. 38 zur Entnazifizierung in Kraft - erlassen durch den Alliierten Kontrollrat, einem von den Militärgouverneuren aller vier Besatzungszonen gebildeten Gremium. Verbindlich für alle vier Besatzungszonen sollte ermittelt werden, wer in den zwölf Jahren der Naziherrschaft als Hauptschuldiger, Belasteter, Minderbelasteter, Mitläufer oder als Entlasteter einzustufen war. Auf diese Weise konnten fast 13 Millionen Deutsche erfasst - und am Ende in ihrer großen Mehrheit doch rehabilitiert werden. Das galt wiederum nicht für die Sowjetzone. Dort hießen die Spruchkammern "Entnazifizierungskommissionen" und dienten eher dazu, durch die Neubesetzung von Stellen mit Kommunisten einen Systemwechsel zu erzwingen. Clemens Vollnhals zieht eine ernüchternde Bilanz:
    "Im Laufe des Verfahrens hat sich der Säuberungswille an der Masse der Bagatellfälle verschlissen und über das abrupte Ende oder Abbruch der Entnazifizierung mit dem beginnenden Kalten Krieg haben wir dann die paradoxe Situation, dass Minderbelastete anfangs härtere Folgen tragen mussten als wirkliche schwer Belastete im Jahre 1948."

    Winifred Wagner (l) neben ihrem Verteidiger Dr. Fritz Meyer während der Verlesung der Anklage vor der Spruchkammer II in Bayreuth am 25. Juni 1947.
    Entnazifizierung - Blütenweiß ins WirtschaftswunderRette sich wer kann in die neue Zeit – das war 1945, nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft, die Devise von Millionen Deutschen, die vor "Spruchkammern" Rechenschaft ablegen. In welch großem Stil dabei beschönigt und gelogen wurde, zeigt Niklas Frank in seinem Buch "Dunkle Seele, feiges Maul".

    Ernst von Salomons Roman "Der Fragebogen"

    Tatsächlich liefen gerade die Karrieren in der Wirtschaft, in der Justiz und Polizei, teils auch im Militär, in den Kirchen sowie nicht zuletzt auch in der bildenden Kunst vor allem in der Bundesrepublik oft bruchlos weiter. Der durch Hitler und Speer protegierte Staatsbildhauer Arno Breker etwa durchlief das Entnazifizierungsverfahren als "Mitläufer" und konnte bis zu seinem Tod 1991 erfolgreich weiterarbeiten.
    In diese Stimmung hinein schlug bereits im März 1951 der Roman "Der Fragebogen" des Schriftstellers und Rechtsnationalen Ernst von Salomon wie ein "Volltreffer in die deutsche Seele" ein, so ein Rezensent. Der Autor hatte seinen Fragebogen einer autobiografisch gefärbten Darstellung deutscher Unschuld zugrunde gelegt. Brillant geschrieben, stand das Buch unter dem Motto, dass die Sieger auch nicht viel besser als die deutschen Täter waren. Bereits im August 1952 hatten sich über 200.000 Exemplare des Buches verkauft. Ein Leser ahnte, wohin das führte, und warf dem Autor in einem Rundfunkgespräch 1952 - unter Beifall vor:
    "Dass Sie mit Ihrem ‚Fragebogen‘ dazu beitragen, dass die deutsche Nation vergisst, dass Leute, die sich den Namen Deutsche gegeben haben, mindestens sechs Millionen Juden in Polen und anderen Orten umgebracht haben."
    Der Beifall konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Weg der Verdrängung längst eingeschlagen worden war. Eine Entwicklung, die durch die Entnazifizierung eher noch bestärkt wurde.