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Vor 75 Jahren
Ein KZ für Kinder und Jugendliche

Am 1. Dezember 1942 richteten die nationalsozialistischen Besatzungsbehörden in der polnischen Stadt Lodz ein Lager für angeblich kriminelle und verwahrloste Minderjährige ein. Die Bezeichnung "Jugendverwahrlager" klang verharmlosend, denn die Realität für die eingesperrten Kinder und Jugendlichen war grausam.

Von Otto Langels | 01.12.2017
    This picture taken 29 August 2004 shows transparent photos featuring Jewish citizens of Lodz, before the war, inside the Lodz ghetto's museum. The Polish city of Lodz on Sunday marked the 60th anniversary of the destruction by the Nazis of its World War II Jewish ghetto, paying homage to 200,000 who died and the few hundred who survived. AFP PHOTO JANEK SKARZYNSKI / AFP PHOTO / JANEK SKARZYNSKI
    Im Ghetto Museum in Lodz - Bilder von ermordeten jüdischen Einwohnern der Stadt (AFP / JANEK SKARZYNSKI /)
    "1. Am 1. Dezember 1942 wird das zur polizeilichen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen polnischen Volkstums errichtete Polen-Jugendverwahrlager Litzmannstadt eröffnet. 2. Einzuweisen sind kriminelle oder sonst verwahrloste junge Polen beiderlei Geschlechts im Alter von acht bis 16 Jahren.
    Mit diesem Erlass vom 28. November 1942 kündigte das Reichssicherheitshauptamt die Eröffnung eines so genannten Jugendverwahrlagers in Litzmannstadt an, wie die polnische Stadt Lodz unter deutscher Besatzungsherrschaft hieß. Die Einrichtung sei als reines Arbeitslager gedacht, hatte wenige Wochen zuvor der zuständige Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, an den Reichsführer SS Heinrich Himmler geschrieben:
    "Erziehungsmaßnahmen außer der Gewöhnung an Ordnung, Sauberkeit und Arbeit kommen nicht in Frage. An Wissen soll ihnen nur so viel beigebracht werden, dass sie eine einfache Arbeitsanweisung lesen und verstehen können."
    "Im Klartext ist es ein Konzentrationslager, ein KZ für Kinder und Jugendliche", sagt der Berliner Historiker und NS-Forscher Wolfgang Benz.
    "In das so genannte Jugendverwahrlager kamen polnische Kinder, die sich auf der Straße herumtrieben, zum Beispiel, weil man ihre Eltern erschossen hatte oder den Vater zur Zwangsarbeit nach Deutschland geholt hat. Faktisch sind sogar Kleinkinder in diesem Konzentrationslager gewesen, vom zweiten Lebensjahr an."
    Neben Litzmannstadt gab es außerdem auf deutschem Boden die Jugend-KZs Moringen und Uckermark. Die Gründe für eine Einweisung in das Jugendverwahrlager Litzmannstadt (*) gaben die zuständigen Ämter in den Antragsformularen an und betonten dabei die kriminelle und sittliche Gefahr für deutsche Nachbarn.
    "Vater ist zur Arbeit im Reich, Mutter im Konzentrationslager, die Kinder drohen zu verwahrlosen."
    "Verdacht auf Diebstahl, die Familie hat in der Gegend schlechten Ruf."
    "Der Junge, 9 Jahre, zeigt asoziale Neigungen und ist geistig und körperlich unterentwickelt."
    "Findelkind, drei Jahre alt, im Waisenhaus untergebracht, schwer erziehbar; nässt ein, neigt zum Diebstahl."
    "Stiehlt mit anderen Kindern Obst in den Gärten, besonders bei deutschen Bürgern. Die Mutter kümmert sich nicht um ihn, der Vater ist tot."
    Die drohende Verwahrlosung war allerdings vor allem darauf zurückzuführen, dass die deutschen Besatzer gemäß ihrer Rassenideologie einen Großteil der Schulen schlossen und die polnische Jugend sich selbst überließen.
    "Der Pole ist ein Mensch minderwertigen Charakters, eine Knechtsnatur und will als solcher behandelt werden", erklärte der SS-Brigadeführer und Polizeipräsident von Litzmannstadt Karl Wilhelm Albert.
    "Vom kriminellen wie vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus ist daher der Pole, im besonderen Fall der jugendliche, kriminelle Pole, als Arbeitskraft zu verwerten."
    Bis zu zwölf Stunden Schwerstarbeit
    Im Lager mussten die Kinder bis zu zwölf Stunden täglich Schwerstarbeit verrichten, schwere Wagen ziehen, Schuhe für die Wehrmacht reparieren, Patronentaschen herstellen oder Tüten kleben.
    "Sie wurden für jede Verfehlung barbarisch bestraft, und sie litten ewig Hunger. Dass die hygienischen und sanitären Maßnahmen vollkommen unzureichend waren, versteht sich am Rande. Deshalb auch eine hohe Sterblichkeit."
    Kinder wurden blutig geschlagen und zu Tode geprügelt, einige schloss man mit den Leichen ihrer Mithäftlinge tagelang in Arrestzellen ein. Einen Jungen zogen SS-Männer mit einem Flaschenzug an den Beinen nach oben und tauchten ihn in altes Maschinenöl. Er starb zwei Tage später.
    1943 mussten alle Patienten des nahe gelegenen Gettos Litzmannstadt das Krankenrevier räumen, weil ein Transport aus dem Jugendverwahrlager ankam. Jakub Poznanski, Insasse des Gettos, notierte in seinem Tagebuch:
    "Es waren über hundert Jungen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren. Die Körper ausgemergelt, Haut und Knochen, die Spuren unmenschlicher Schläge und Folter trugen. Die Schultern mit eiterndem Schorf bedeckt, einige von ihnen hatten gebrochene Gliedmaßen und Finger. Die Kinder litten an Flecktyphus und kein deutscher Arzt wollte sie behandeln."
    Bis heute keine genauen Zahlen über die Opfer
    Das Jugendverwahrlager Litzmannstadt hatte die SS für 2.000 polnische Kinder und Jugendliche konzipiert. Insgesamt durchliefen vermutlich mehr als 10.000 Häftlinge das Lager, von ihnen starben schätzungsweise ein Drittel. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Als die Rote Armee das Lager im Januar 1945 befreite, lebten noch rund 800 Kinder.
    (*) Ein redaktioneller Fehler wurde beseitigt. Richtig muss es heißen: Jugendverwahrlager Litzmannstadt. Das fehlerhafte Audio wurde ebenfalls ausgetauscht.