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Vor 75 Jahren schlägt Frankreichs Außenminister eine Europäische Union vor

Auf dieser Tribüne stehe ich mit einer doppelten Aufgabe. Zunächst bin ich als Delegierter Frankreichs aufgerufen, in dieser Generaldebatte meine Meinung über die Tätigkeit des Völkerbundes im verflossenen Jahr kundzutun. In meiner Eigenschaft als Mandatsträger von fündundzwanzig europäischen Nationen habe ich aber auch den Auftrag, Ihnen eine Mitteilung zu machen.

Von Peter Hölzle | 05.09.2004
    Mit diesen Worten eröffnet der französische Ministerpräsident und Außenminister Aristide Briand, am 5. September 1929 seine Rede auf der Völkerbundsversammlung in Genf. Der eher förmlich anmutende Beginn lässt nicht ahnen, welch spektakuläre Botschaft sie enthält.

    Ich denke, dass es zwischen Völkern, die geographisch wie die Völker Europas gruppiert sind, eine Art föderaler Bindung geben sollte. Diese Völker müssen in jedem Augenblick die Möglichkeit haben, in Kontakt miteinander zu treten, ihre Interessen zu diskutieren, gemeinsame Entschließungen zu fassen und zwischen sich ein Band der Sicherheit zu schlingen, das es ihnen ermöglichen wird, wenn nötig widrigen Verhältnissen zu begegnen.

    Die Idee einer Vereinigung Europas, hier wird sie erstmals nicht von spekulationsfreudigen Philosophen oder phantasierenden Poeten, sondern von einem weitsichtigen Staatsmann auf einem politischen Forum propagiert, das internationaler nicht sein kann. Briands Europaplan schlug in Genf wie eine Bombe ein, aber die Bombe detonierte nicht wirklich. Europa musste erst noch einen Zweiten Weltkrieg über sich ergehen lassen, ehe es bereit war, den kühnen Gedanken des großen Franzosen in die Tat umzusetzen. Der dachte dabei freilich nicht nur an Europa, sondern auch an Frankreichs Sicherheit, die nur in einem friedlichen Umfeld gewährleistet war, weshalb er denn auch am Ende seiner Rede festhält:

    Ich habe persönlich versucht, einen wirksamen Beitrag zu diesem Friedenswerk zu leisten.

    Im Spätsommer 1929 steckte dieses Friedenswerk noch in kleinen Anfängen, und - was schlimmer war - Frankreichs Sicherheitsbedürfnis wuchs, weil die Haager Regierungskonferenz kurz zuvor beschlossen hatte, sofort mit der Räumung des Rheinlandes von alliierten Truppen zu beginnen. Vor diesem Hintergrund ist Briands Idee einer Europäischen Föderalen Union ein weiterer Schritt zum Ausbau jenes von ihm entworfenen kollektiven Sicherheitssystems, das Europa den Frieden und Frankreich die Aussöhnung mit Deutschland bringen sollte. Briands deutscher Partner, Außenminister Gustav Stresemann, griff den Gedanken sofort auf und versah ihn mit wirtschaftlichen Akzenten. Am 9. September 1929 führte er, von schweren Herzattacken bedrängt, in seiner letzten Rede vor dem Plenum des Völkerbundes aus:

    Sie sehen neue Grenzen, neue Maße, neue Gewichte, neue Münzen, ein fortwährendes Stocken des Verkehrs. Ist es nicht grotesk, dass Sie auf Grund neuer praktischer Errungenschaften die Entfernung von Süddeutschland nach Tokio um zwanzig Tage verkürzt haben, sich aber in Europa selbst stundenlang mit der Lokomotive irgendwo aufhalten lassen müssen, weil eine neue Grenze kommt, eine neue Zollrevision stattfindet ... ? Neue Industrien werden aus nationalem Prestige begründet. Sie müssen geschützt werden, müssen sich selbst neue Absatzgebiete suchen und können oftmals kaum im eigenen Lande diejenigen Absatzmöglichkeiten finden, die ihnen die Rentabilität sichern. Wo bleibt die europäische Münze, die europäische Briefmarke?

    Briands Aufruf zu einer Europäischen Union und Stresemanns Forderung einer europäischen Währung blieben lange Zukunftsmusik. Die Europaideen beider Staatsmänner scheiterten zunächst am Nationalismus und am gegenseitigen Misstrauen der alten Feindmächte. Dass sie heute weitgehend verwirklicht sind, zeigt wie konkret sie waren. Ihr später Erfolg hinterlässt freilich einen bitteren Nachgeschmack. Was wäre Europa alles erspart geblieben, wenn sie schon vor 75 Jahren realisiert worden wären!