Vor 75 Jahren starb Annemarie Schwarzenbach

Ikone der Lesbenbewegung

Annemarie Schwarzenbach lehnt an einem Baum
Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach © imago stock&people
Von Anette Schneider · 15.11.2017
Annemarie Schwarzenbach entstammte der Schweizer High Society, reiste mit dem Auto bis nach Kabul, brach mit gängigen Konventionen. Wegen ihrer selbstbewusst offen gelebten Liebschaften zu Frauen, gilt sie vielen auch heute noch als Vorreiterin.
Mehrfach war die Schriftstellerin und Weltreisende Annemarie Schwarzenbach in den 1930er-Jahren in den Orient gereist. Doch nirgendwo hatte sie erlebt, was sie 1939 in Afghanistan sah: unter dem Tschador zur Unsichtbarkeit gezwungene Frauen.
"Wir mögen ja heute in Europa skeptisch geworden sein gegenüber Schlagworten von Freiheit, Verantwortung, gleichem Recht für alle", schrieb sie damals in ihrem Artikel "Die Frauen von Kabul".
"Aber es genügt, die dumpfe Knechtschaft von Nahem gesehen zu haben, die aus Gottes Geschöpfen freudlose, angsterfüllte Wesen macht, - und man wird die Entmutigung abschütteln (...) (und) an die schlichten Ziele eines menschenwürdigen Daseins glauben und sich dafür einsetzen."

Zufällige Wiederentdeckung

Lange war Annemarie Schwarzenbach vergessen. Erst 1987 entdeckte man zufällig ihren künstlerischen Nachlass in einem Schweizer Archiv. Seitdem werden ihre Texte neu herausgegeben, viele erscheinen zum ersten Mal. Dabei zeigte sich: Die promovierte Historikerin war auch Fotografin und Antifaschistin.

Ein Einblick ins Archiv Annemarie Schwarzenbachs:



Und hier eine Sammlung von Fotografien der Weltreisenden aus dem Archiv der Schweizer Nationalbibliothek.

Schwarzenbach wurde 1908 in einer der reichsten Schweizer Industriellen-Familien geboren und bewegte sich zeitlebens in den höchsten Gesellschaftskreisen. Sie wuchs auf einem Gut am Zürcher See auf. Während die Mutter Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Richard Strauß und Arturo Toscanini empfing, las sich das kurzhaarige Mädchen durch die Bibliothek des Vaters und tobte in Hemd und Lederhose über das Landgut.
Der Historiker Alexis Schwarzenbach, der eine umfangreiche Bildbiografie seiner Großtante veröffentlichte und 2008 eine erste Foto-Ausstellung organisierte: "Annemarie Schwarzenbach hat sich schon als Kind gegen diese Genderrollen aufgelehnt, indem sie sich wie ihre Brüder angefangen hat anzuziehen. Sich Fritz genannt hat. Und später dann, als sie in die Pubertät kam und als junge Frau dann, mit dieser Androgynität sehr gespielt."

Gegen alle Konventionen

Nach ihrem Studium in Zürich und Paris zog sie 1931 nach Berlin. Sie stürzte sich ins Nachtleben, lebte gegen alle Konventionen offen ihre Liebschaften zu Frauen, nahm Morphium, inszenierte sich als androgyne, melancholische Schönheit und ließ sich so unter anderem mehrfach von der Fotografin Marianne Presslauer porträtieren.
Klaus Mann und seine Schwester Erika wurden ihre engsten Freunde. 1936 traf sie die beiden sogar im US-amerikanischen Exil.
"Was es für sie sehr spannend machte, war natürlich: Bei den Schwarzenbachs zählten Pferde. Das war das große Hobby. Und bei den Manns waren es die Bücher. Annemarie wollte Schriftstellerin werden und hat sich in ihrer Ersatzfamilie, den Manns, deswegen so wohl gefühlt, weil das eben eine literarische Familie war", sagt Alexis Schwarzenbach.

Gefühl der Fremde, die Sehnsucht nach Liebe

Ihre lyrische Prosa, die sie in den späten 20er und 30er Jahren entwickelte, kreiste um Geschlechterrollen, Einsamkeit, das Gefühl der Fremde, die Sehnsucht nach Liebe. Vieles blieb unveröffentlicht. Ihr flirrend-erotischer Text "Eine Frau zu sehen" erschien erstmals 2008.
"Ich hebe die Augen, eine Frau steht mir gegenüber (...) ich erstaune vor der schönen leuchtenden Kraft ihres Blickes, und nun begegnen wir uns, eine Sekunde lang, und ich fühle unwiderstehlich den Drang, dem ungeheuren Unbekannten zu folgen."

Der ganz persönliche Blick

Bekannt wurde Annemarie Schwarzenbach dagegen als Reisejournalistin für Schweizer Zeitungen: Seit 1933 durchquerte sie rastlos Europa, den Orient, den Kongo - und die USA. 1937 fuhr sie mit einer Kollegin monatelang durch die Südstaaten, schilderte die verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise und hielt in eindringlichen Dokumentaraufnahmen Arme und Arbeitslose fest. Ihre Texte über den Orient gelten heute als historische Dokumente einer nicht mehr existierenden Zeit. Und überall fotografierte sie die Schönheit selbstbewusster Frauen.
"Wie bei ihren Texten ist es der sehr persönliche Blick: Sie macht unglaublich schöne Aufnahmen von Geliebten. Aber auch von fremden Frauen, die sie trifft, sei das in Amerika oder auch Afrika, in Afghanistan. Das sind Sachen, wo sie sich von den männlichen Kollegen, die gleichzeitig als Fotojournalisten natürlich auch arbeiten, da unterscheidet sie sich."
Erschöpft von den Reisen, innerlich halt- und heimatlos, krank durch Morphiumsucht, Entziehungskuren und Depressionen, fuhr Annemarie Schwarzenbach im Sommer 1942 in die Schweiz, um sich zu erholen. Nach einem Fahrradunfall und einer vermutlich falschen Behandlung durch die Ärzte, starb sie am 15. November 1942. Sie wurde 34 Jahre alt.
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