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Vor dem Urteil im Halle-Prozess
Erschöpfte Nebenkläger und fehlende Antworten

Im Oktober 2019 versuchte Stephan B. an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, die Synagoge in Halle zu stürmen. Als er dabei an der Eingangstür scheiterte, erschoss er zwei Menschen und verletzte mehrere schwer. Im Prozess macht er aus seinem Rassismus und Antisemitismus keinen Hehl.

Von Niklas Ottersbach | 21.12.2020
Der angeklagte Stephan Balliet sitzt schwer bewacht im Landgericht von Magdeburg
Der Angeklagte Stephan Balliet während des Prozesses vor dem Magdeburger Landgericht (dpa-Zentralbild)
Update: Im Prozess zum rechtsterroristischen Anschlag von Halle ist der Angeklagte zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Zudem stellte das Oberlandesgericht Naumburg die besondere Schwere der Schuld fest, was eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren unwahrscheinlich macht.
Eine Wiese vor dem Magdeburger Landgericht. Nach den Schlussplädoyers trifft sich hier ein Großteil der rund 40 Nebenkläger. Viele in schwarz gekleidet. Christina Feist ist eine von ihnen. Die 30-Jährige hat an Jom Kippur 2019 in der Synagoge von Halle gebetet. Seit Juli dieses Jahres hat Christina Feist als Nebenklägerin fast jeden Prozesstag miterlebt. Jetzt muss sie erstmal die letzten Worte des Angeklagten verdauen.
Erst sein Aufruf zum Bürgerkrieg, danach hat er den Holocaust geleugnet. Im Zuschauerraum: Tränen und Fassungslosigkeit. Mal wieder. Wer diesen Abgrund an Antisemitismus und Menschenhass erlebe, sagt Christina Feist, der wisse jetzt worum es geht.
"Ich glaube, dass alle, die in diesem Gerichtssaal auch nur einmal kurz gesessen sind, egal in welcher Funktion, in irgendeiner Form eine Entwicklung gemacht haben. In welche Richtung, das kann ich nicht einschätzen, ich kann nur hoffen, dass der Großteil der Menschen sensibilisiert ist. Dass der Großteil der Menschen verstanden hat, worum es geht und nicht länger Realitätsverweigerung betreibt."

Rassismus im Kreis der Familie

Hass auf Juden, auf Muslime: All das zeigt der mutmaßliche Attentäter schon von Prozessbeginn an. Einblicke in sein Familienleben blockt er ab. Seine Eltern? Schweigen vor Gericht. Dafür spricht der Ex-Schwager der Familie des Angeklagten. Über rassistische Äußerungen im Kreise der Familie. Darüber, dass niemand widersprach. Nebenklägerin Sabrina macht das noch mehr zu schaffen, als die Aussagen von Stephan B selbst. Die 23-jährige Amerikanerin lebt in Berlin. Sie nennt nur ihren Vornamen, der Nachname soll anonym bleiben. Auch Sabrina ist eine der Synagogen-Besucherinnen vom 9. Oktober 2019.
"Das sind keine grausamen Menschen, sondern normale Leute. Und es schockiert mich, wie oft sie sagen: Es gab einen Streit in der Familie, der Angeklagte sagt was judenfeindliches und ich hab nix gesagt. Oder es gab einen Streit über Politik und ich hab weggeguckt. Und diese Antwort: Ja, ich habe gesehen, dass er es schwer hat, aber ich muss ja mein eigenes Leben leben. Ich konnte nix tun. Das hat mich am meisten schockiert."
Einschusslöcher in der Tür der Synagoge in Halle
Jahrestag des Halle-Anschlags - Staat hat Bedrohung "zu 60 Prozent" erkannt
Aus jüdischer Perspektive sei der Alltag nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle viel zu schnell zurückkehrt, sagte Ygor Matviyets von der dortigen Jüdischen Gemeinde im Dlf. Er forderte die Politik auf, im Kampf gegen Antisemitismus nicht nachzulassen.
Das Verfahren gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle: Es ist der größte Strafprozess in der Geschichte von Sachsen-Anhalt. Über 80 Zeugen, Journalisten von "New York Times" bis zur "Israel Hayom". Sie alle erleben vor allem einen Prozess, der den Betroffenen viel Raum lässt.

Strafverfolgung mit Kompetenzlücken

Dennoch zeigten die letzten Monate auch die Schwachstellen der Strafverfolgungsbehörden, resümiert David Herrmann. Er vertritt vor Gericht einen Gast im Döner-Imbiss. Der zweite Tatort vom Halle-Anschlag. David Herrmann kritisiert vor allem die Ermittler des Bundeskriminalamts. Speziell diejenigen, die sich mit den Image Boards beschäftigt haben. Auf diesen anonymen Online-Foren hat sich Stephan B. anonym ausgetauscht. Bilder, Texte. Hass und Manga-Bilder. Diese Welt hätten die Ermittler nicht wirklich verstanden, so Anwalt David Herrmann:
"Das Kuriose war ja, dass wenige sich tatsächlich auf Image Boards umgesehen hatten. Der eine, der da tatsächlich mal die Rezeption im Internet überprüfen sollte, der hat gar keine Beweissicherung gemacht. Der hat noch nicht mal Screenshots gemacht. Die Zweite, die sich mit dem Gamer Account einer großen Plattform auseinandersetzen sollte, hat unumwunden gesagt, ich bin keine Gamerin. Ich kenne mich damit nicht aus. Das sind nicht die Fachkräfte, die ich erwarte, die die oberste Strafverfolgungsbehörde, auf Polizeiebene, auf solche Fälle ansetzt."

Zwei Menschen ermordet, weitere traumatisiert

Tatsächlich bleibt zum Ende des Prozesses vieles unbeantwortet: eine anonyme Bitcoin-Spende, die Stephan B. bekommen haben soll? Ungeklärt. Mögliche Mitwisser, Kontakte im Netz? Auch da: Keine Antworten. Und das BKA? Das verweist auf Deutschlandfunk-Anfrage auf die begrenzten rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten bei Image Boards. Denn: Die meisten dieser Plattformen wie "Meguca" oder "Kohlchan" werden aus dem Ausland heraus betrieben. Die polizeiliche Nachverfolgung sei da schwierig.
09.10.2020, Sachsen-Anhalt, Halle (Saale): Ein Mann steht während der Schweigeminute 12:01 Uhr zum Gedenken der Opfer des Terroranschlags von Halle/Saale vor der Synagoge. Zu dieser Zeit fielen die ersten Schüsse auf das jüdische Gotteshaus. Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in Halle wird mit Veranstaltungen und Gebeten der Opfer gedacht. Am 09. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist versucht, die Synagoge zu stürmen und ein Massaker unter 52 Besuchern anzurichten. Als ihm das nicht gelang, erschoss er eine Passantin und in einem Dönerimbiss einen jungen Mann. Foto: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Jüdischer Blogger: Ein Anschlag auf uns alle - nein!
Chajm Guski kritisiert nach dem Anschlag von Halle die Rituale und Floskeln der Betroffenheit. "In erster Linie würde uns Ehrlichkeit helfen, dass Politiker sagen: Wir haben keine Ahnung, wie wir im Moment darauf reagieren sollen", sagte er im Dlf.
Das alles ändert nichts mehr an der Tat. Der mutmaßliche Attentäter hat zwei Menschen ermordet. Und weitere verletzt und traumatisiert. Der Angeklagte sei voll schuldfähig, so die psychologischen Gutachter. Die Forderung der Generalbundesanwaltschaft: Lebenslange Freiheitsstrafe und anschließende Sicherungsverwahrung. Letzteres will Hans-Dieter Weber verhindern. Der Strafverteidiger von Stephan B. argumentiert: Sein 28-jähriger Mandant habe noch sein ganzes Leben vor sich.
"Auch, wenn sich das in der JVA abspielen wird. Aber man darf schon davon ausgehen, dass ihn dieser Gefängnisaufenthalt verändern wird. Er wird sicherlich nach Verbüßung seiner Strafe nicht als derselbe rauskommen, der er heute ist. Davon bin ich überzeugt. Und von daher habe ich mich auch gegen diese Sicherungsverwahrung ausgesprochen."

Antisemitismus in der Gesellschaft

Das sehen die Nebenkläger anders. Für Sabrina und Christina Feist steht fest: Der Angeklagte ist eine Gefahr für die Gesellschaft. Aber er sei eben auch ein Produkt dieser Gesellschaft. Insofern hoffen beide, dass die Aufmerksamkeit für Antisemitismus auch nach der Urteilsverkündung nicht abflaut. Christina Feist ist auch irgendwie erleichtert, dass der Prozess nach der Urteilsverkündung heute ein Ende findet.
"Mir fehlt ein bisschen das Vokabular, um auszudrücken, wie unglaublich müde und erschöpft ich bin. Das war schon zu erwarten, fünf Monate sind eine lange Zeit. Dieser Prozess hat wahnsinnig lange gedauert, hat unglaublich an meiner Energie und meinen Nerven gezehrt."
Nach dem Prozess will sich Christina Feist nur noch ihrer Promotion in Philosophie widmen. Sie lebt inzwischen in Paris. Nach Deutschland will sie vorerst nicht zurück. Seit dem Anschlag von Halle habe sie festgestellt, dass sie hier in Angst lebe.