Donnerstag, 25. April 2024

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Vor den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine

Vor dem ukrainischen Parlament in Kiew geht es laut zu. Eine Studentenorganisation hat zur Unterstützung von Präsident Leonid Kútschma aufgerufen. Der amtierende Präsident ist einer von insgesamt 15 Kandidaten, über deren politische Zukunft die 37 Millionen wahlberechtigten Bürger der Ukraine am Sonntag mit dem Stimmzettel entscheiden. Auf einem aus Brettern zusammengezimmerten Podium steht ein Student mit Stirnbinde. Er feuert die Demonstranten an, die in Sprechchören gegen den linken Parlamentssprecher und Präsidentschaftskandidaten Oleksándr Tkatschénko protestieren. Er schade dem Image der Ukraine, heißt es.

Ulrich Heyden | 27.10.1999
    Ganz andere Forderungen hört man abends im nur schwach beleuchteten Saal des Kiewer Kinos "Leningrad", am linken Ufer des Dnjepr. Alle Plätze sind besetzt. Vor dem Gebäude verlangen Hunderte von aufgebrachten Bürgern Einlass. Doch die Polizei weist die Menge streng zurück. Die Sicherheitsvorkehrungen sind verschärft worden, nachdem auf die Präsidentschaftskandidatin Natalja Witrenko vor kurzem ein Handgranatenanschlag verübt worden war, bei dem sie und weitere 40 Menschen verletzt wurden. Im Saal lauscht das Publikum der Radikal-Sozialistin im dunkelblauen Kostüm. Natalja Witrénko gehört zu den aussichtsreichen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen. Nach Umfragen der Kiewer Meinungsforschungsinstitute liegt die 48-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin mit geschätzten 18 Prozent Stimmanteil inzwischen auf Platz zwei der Bewerber für das Präsidentenamt.

    Am 31. Oktober werde sich zeigen wer stärker ist, "das Volk oder die Mafia", erklärt die Kandidatin. Die Führungsfiguren der ukrainischen Schattenwirtschaft hätten nämlich weiterhin erheblichen Einfluss und versuchten die Wahlen zu manipulieren.

    Frau Witrenko, die jahrelang in der staatlichen Planungsbehörde arbeitete, ist ganz in ihrem Element, wenn sie mit dem Zeigestock die großformatigen Statistiken erläutert. In einfachen Worten beschreibt sie den Niedergang der ukrainischen Wirtschaft. Das, worauf die Ukraine einmal stolz war, auf Maschinenbau und Schwerindustrie, sei durch die Politik des Internationalen Währungsfonds – IWF - zerrüttet worden, das Bruttosozialprodukt seit 1991 um 60 Prozent gesunken. Der Niedergang sei stärker als in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges, als die Produktion von Gütern und Dienstleistungen - so zumindest Witrenko - "sowjetunion-weit nur um 25 Prozent" abgesackt sei.

    Über hausgemachte Fehler und Ursachen verliert Witrénko kein Wort. Alles Übel ortet sie beim IWF, der die Wirtschaft der Ukraine bewusst zerstöre und damit Hungersnöte und Atomkatastrophen provoziere. Irgendwann – so ihre Angstprognose – komme dann der Punkt, wo die NATO in die Ukraine einrücke, um die Ordnung wieder herzustellen.

    Der Saal applaudiert, wenn Witrenko vom - wie sie formuliert - "IWF-Faschismus" spricht. Richtige Stimmung kommt aber erst auf, als sie ankündigt, den ehemaligen Staatsbeamten ihre hohen Pensionen zu kürzen und die wahren Nutznießer der IWF-Politik im Land, hohe Politiker und Geschäftsleute, die Millionen Dollar ins Ausland schafften, zur Verantwortung zu ziehen.

    Kleine Gauner will sie laufen lassen, die – wie sie sagt - 500 Familienclans aber, die an der Ausplünderung des Landes beteiligt seien, will sie zur Rechenschaft ziehen.

    Auf die Frage dann, wie sie sich die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland nach ihrem möglichen Wahlsieg vorstellt, erklärte Natalja Witrenko:

    Grundlage der Beziehungen ist die gegenseitigen Achtung der Souveränität. Es soll gutnachbarschaftliche Beziehungen geben. Was die Handelsverträge angeht, so werden sie nicht offen und frei sein. Wir streben staatliche Verträge über wirtschaftliche Zusammenarbeit an. Damit werden wir dann regeln, welche Waren, zu welchen Preisen ge- und verkauft werden.

    Witrenko meint, sie persönlich habe der untergegangenen Sowjetunion viel zu verdanken. Das alte System will sie nicht wieder errichten. Aber sie wird nicht müde, die Vorzüge der alten sowjetischen Verfassung zu preisen. In der alten Verfassung sei das persönliche Eigentum der Bürger geschützt gewesen. Jetzt sei nur noch das Privateigentum der Unternehmer gesichert. Auch habe es in der alten Verfassung mehr politische Rechte für die Bürger gegeben als in der neuen ukrainischen Verfassung.

    Heute fehle echte Pressefreiheit in der Ukraine, erklärt Witrenko. Die Journalisten würden von ihren Geldgebern gezwungen, irgendwelche Gemeinheiten zu schreiben. Wer sich nicht füge, dem werde gekündigt. Unter ihrer Präsidentschaft werde es volle Pressefreiheit geben, verspricht die Kandidatin. Einen Vorgeschmack gab sie auf der Pressekonferenz nach dem auf sie verübten Handgranatenanschlag. Mehrere Journalisten wurden wegen angeblich unsachlicher Berichterstattung ihrer Blätter von der Veranstaltung ausgeschlossen.

    Trotz ihrer offen an Sowjetnostalgie anknüpfenden Forderungen hat Witrenko mit den Bürokratinnen der alten Ordnung wenig gemein. Die Präsidentschaftskandidatin, die vor zwei Jahren den Preis "Frau des Jahres" bekam, hat vom westlichen Medien-Business einiges gelernt. Bei öffentlichen Auftritten zeigt sie sich immer mit einem Mann, ihrem langjährigen Berater und im Kreis von Familienangehörigen. Die radikale Sozialistin ist immer bestens frisiert, ihre Kostüme erinnern eher an die Stars der in der Ukraine beliebten mexikanischen Seifenopern als an Sowjet-Tristesse.

    Für den amtierenden Präsidenten Leonid Kútschma ist die Radikal-Sozialistin wahrscheinlich dennoch eine bequeme Konkurrentin. Natalja Witrénko bekommt nach den bisherigen Prognosen zwar die zweitmeisten Stimmen und schlüge damit andere berechenbarere Kandidaten, wie den Sozialistenchef Marós oder den ukrainischen KP-Vorsitzenden Simonénko aus dem Feld. Eine Mehrheit auf sich zu vereinigen, dürfte sie aber dennoch nicht schaffen. Nach Ansicht der meisten Beobachter wird der Großteil der noch unentschlossenen Wähler im letzten Moment nicht für die Radikal-Sozialistin sondern für Leonid Kutschma stimmen.

    Noch rätselt man in der Ukraine, welche Kräfte hinter Witrenko stehen. Manche Beobachter halten es für möglich, dass der amtierende Präsident die Kandidatin über seine Kanäle selbst "aufgebaut" hat. W e n n dies so wäre, dann spiele Kutschma ein sehr gefährliches Spiel, meint Hlyb Wischlínskij vom Kiewer Zentrum für politische Studien:

    Das Verhalten der Wähler, insbesondere in so wenig entwickelten Demokratien wie der Ukraine, ist sehr schwer vorauszusagen. Das ist ein ziemlich riskanten Spiel für Kutschma. Wenn er mit Witrenko in die Stichwahl geht, muss er sehr davon überzeugt sein, dass er die Stimmen der Kandidaten bekommt, die in der ersten Wahlrunde ausgeschieden sind.

    Über Finanzmittel zumindest scheint Witrenkos Partei zu verfügen. Einer ihrer Berater erklärte im Gespräch, ein Teil der ukrainischen Geschäftsleute unterstütze die Kandidatin, mache dies aber aus Angst vor Sanktionen der Kutschma-Administration nicht öffentlich.

    Sollte sie Präsidentin werden, dürfte sich das Verhältnis der Ukraine zum Westen zweifellos abkühlen. Russland, Weißrußland und die Ukraine – so ihre Vision – sollen dann umgehend ein festes Bündnis bilden. Den weißrussischen Präsidenten, Alexander Lukaschénko, der 1994 mit ähnlich populistisch klingenden Parolen gewählt wurde, wie sie jetzt Natalja Witrenko von sich gibt, will sie "nicht k o p i e r e n", erklärt sie. In einer außenpolitischen Frage war sie mit Lukaschenko allerdings von vorneherein einig. Während des Kosovo-Krieges forderte Frau Witrénko, ebenso wie er, Waffenlieferungen an die "slawischen Brüder" in Jugoslawien.

    Die Linke in der Ukraine präsentiert sich bei den Präsidentschaftswahlen mit mehreren Kandidaten, ein für den amtierenden Präsidenten eher günstiger Umstand.

    Neben der Radikal-Sozialistin Natálja Witrénko kandidieren noch der KP-Chef Pjotr Simonénko sowie der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Oleksándr Marós.

    Ein Ende August gebildetes Mitte-Links-Bündnis, das sich auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu Kútschma einigen wollte, ist gestern, am Dienstag, im buchstäblich letzten Moment wieder geplatzt.

    Bis auf Parlamentssprecher Tkatschenko, der seine Kandidatur zu Gunsten des KP-Kandidaten Simonenko zurückzieht, werden die Mitglieder des einstigen Bündnisses jetzt nun doch einzeln zur Wahl antreten.

    An Leonid Kútschma läßt Parlamentssprecher Tkatschénko kein gutes Wort. Der verteidige seine Macht mit allen Mitteln. Sein Schicksal sei verknüpft mit den Vertretern der ukrainischen Schattenwirtschaft, mit sogenannten Oligarchen wie dem Ex-Premierminister Pawló Lasarénko, der sich - zusammen mit einigen Millionen Dollar - in die USA abgesetzt hat und dessen Auslieferung die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden seit Monaten fordern.

    Die Macht hat sich neu orientiert. Sie will nicht verlieren, was sie sich auf ungesetzlichem Wege angeeignet hat. Deshalb greift sie heute jene an, die sich entschieden haben, für diesen Staat Verantwortung zu übernehmen, in einer Zeit, in der 80 Prozent der Bevölkerung unter ihrer Menschenwürde leben. (…) Wenn die Reformen so durchgeführt würden, daß die Wirtschaft jeden Tag wächst und der Wohlstand zunimmt, wenn der Staat insgesamt gestärkt würde, ist das e i n e Sache. Eine a n d e r e Sache ist es aber, wenn der Hausherr sein altes Haus erstmal zerstört und dann erst darüber nachdenkt, wo er mit seiner Familie leben wird. (…) Die ukrainischen Reformer haben aus vielen Varianten die schlechteste ausgewählt. Sie haben uns auf den Weg eines Kapitalismus aus der Zeit des 19. Jahrhunderts geführt.

    Der Leiter von Präsident Kutschmas Wahlkampfstab, Michaíl Doroschénko, bestreitet nicht, dass es mit der Wirtschaft des Landes nicht zum Besten steht. Präsident Kutschma habe aber immerhin die Basis für einen Aufschwung geschaffen. Der Leiter von Kutschmas Wahlkampfstab hebt hervor, daß sein Chef, der ukrainische Präsident, zur NATO ein gutes Verhältnis anstrebt. Die von den ukrainischen Kommunisten und Radikal-Sozialisten geforderte slawische Union aus Russland, Weißrussland und der Ukraine lehne Leonid Kutschma jedenfalls ab:

    Seine Haltung zu einer slawischen Union ist negativ. In Russland, Belarus und der Ukraine gibt es noch viele andere nichtslawische Nationalitäten. Wie soll man mit ihnen umgehen? Hinter der slawischen Union steht die bloße Absicht zur früheren Sowjetunion zurückzukehren. (…) Die Kandidaten der Linken sind gegenüber der NATO a g r e s s i v eingestellt. Kutschma ist für die Z u s a m m e n a r b e i t mit der NATO. Im Zentrum und im Westen der Ukraine wird dieser Gedanke normal aufgenommen. Im Osten der Ukraine nicht immer. Kutschma ist aber der Ansicht, dass die Zusammenarbeit mit der NATO der Sicherheit der Ukraine dient. Es geht dabei noch nicht um die Mitgliedschaft in der NATO, sondern zunächst um die Zusammenarbeit mir ihr. (…) Kutschma sieht die Ukraine als Teil E u r o p a s . (...) Mit R u s s l a n d soll es aber auch gute, normale Beziehungen geben.

    Das zur Zeit stärkste Argument gegen eine slawische Union ist Russlands Krieg gegen Tschetschenien. Immer wieder äußern Bürger der Ukraine Genugtuung darüber, daß sich der nun unabhängige Staat an den Kriegsabenteuern Moskaus nicht beteiligt. "Ein Glück, daß nicht unsere Jungs in Tschetschenien sterben müssen", sagen die ukrainischen Mütter und Ehefrauen. Dennoch: Vor allem im überwiegend russischsprachigen Ostteil der Ukraine bleibt das Verhältnis der Bevölkerung gegenüber der NATO distanziert. Während der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien gab es dort starke Kritik aber ebenso auch von o f f i z i e l l e r ukrainischer Seite. Das prowestlich orientierte ukrainische Außenministerium sah sich gezwungen, die Stimmungen in der Bevölkerung zu berücksichtigen und dem Wunsch nach guten Beziehungen nicht nur zur NATO sondern auch zu Russland ausdrücklich zu betonen.

    Hlyb Wischlínskij ist Sprecher des vom amerikanischen Finanzier George Schórosch finanzierten Kiewer Internationalen Instituts für politische Studien. Nach Meinung des Politologen Wyschlinskij hat der ukrainische Präsident seine großen Vollmachten bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik bislang zu wenig genutzt. Die häufig genannte Oppositions-Rolle der "Werchowna Rada", des Parlaments, solle man dabei jedoch nicht überbewerten, meint er:

    Ich würde die These von der Konfrontation zwischen einem roten Parlament und einem radikalen Reformpräsidenten nicht bestätigen. (…) Einzelne Entscheidungen des Präsidenten waren t a t s ä c h l i c h vorteilhaft für die Wirtschaft. Aber der Präsident hätte auf Grund seiner Vollmachten alle Möglichkeiten noch mehr Einfluss auf die Wirtschaft auszuüben. (…) Wenn also der Präsident w i r k l i c h ein Reformer wäre und alles dafür tun würde, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, und die Wirtschaft umzustrukturieren, hätte die Ukraine schon ein ökonomisches Niveau erreicht, das mit den Nachbarländern Polen, Tschechien und Ungarn vergleichbar wäre.

    Für Wyschlinskij ist das ukrainische Parlament derzeit einfach nicht stark genug. Dies liege unter anderem daran, daß es auf Seiten der Regierung vor allem ausgesprochene Mängel bei der Entscheidungsfindung gebe. Das Parlament wiederum zeige sich bei seiner eigenen Entscheidungsfin-dung ebenfalls meist als zu wenig zielbewußt:

    Die Arbeit der Regierung ist zu wenig erfolgsorientiert. Sie arbeitet nach altem sowjetischem Muster, bei dem die Entscheidung oben beschlossen wurde und danach alle diese Entscheidung auszuführen hatten. In einer demokratisch verfaßten Gesellschaft aber werden Entscheidungen oft nicht ausgeführt. Häufig ist die Entscheidung nicht richtig. Es gibt noch keinen neuen Mechanismus, wie Entscheidungen entstehen und umgesetzt werden, so wie es in einer demokratischen Gesellschaft eigentlich sein soll, also auch wie man alternative Varianten berücksichtigt, sie öffentlich in der Gesellschaft mit allen politischen Kräften berät, auch mit der Opposition.

    Die Wirtschaft in der Ukraine stützt sich nach wie vor auf große Industriegiganten, die einst auf die Zusammenarbeit mit Partnerbetrieben in den früheren Sowjetrepubliken ausgerichtet waren. Nur sieben Prozent des Bruttosozialprodukts der Ukraine werden von Klein- und Mittelbetrieben erwirtschaftet. Privatisiert wurden vor allem Klein- und Mittelbetriebe. Die Großbetriebe in den Branchen Metallurgie, Chemie, Telekommunikation, Eisenbahn und Elektroenergie befinden sich dagegen nach wie vor in Staatshand oder der Staat hält bei ihnen zumindest noch große Aktienpakete.

    Hinzu kommt: Im nächsten Jahr muss die Ukraine 3 Milliarden Dollar an Auslandsschulden zurückzahlen. Um ihrer Zahlungsunfähigkeit zu entgehen, werde die Ukraine also wahrscheinlich gezwungen sein, Staatsbetriebe zu verkaufen, meint deshalb der Politologe Hlyb Wischlínskij. Das würde übrigens – wie er hofft –auch zu einer "Zivilisierung" der ukrainischen Wirtschaft beitragen:

    Die Wirtschaft der Ukraine scheint sich derzeit so wie in Südostasien zu entwickeln, wo die Wirtschaft von einigen Clans gelenkt wird, die über Freunde und Verwandte einen direkten Zugang zur Macht haben. (…) Weil aber Reste totalitärer Strukturen in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion noch reichlich vorhanden sind, ist solch eine Verbindung von Kapital und Macht sehr erfolgreich. Deshalb wäre es besser diese Staatsbetriebe an ausländische Investoren zu verkaufen, die wesentlich weniger von der ukrainischen R e g i e r u n g sondern eher von ihren Zentralen in London, New York oder Frankfurt abhängig sind.

    Nach offiziellen Angaben hat die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung in der Ukraine keine Arbeit. Der Durchschnittslohn liegt ein vielfaches unter dem Existenzminimum. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Der Politologe Wischlinskij sieht in der ukrainischen Wirtschaft nämlich auch viele positive Tendenzen:

    Es sind sehr viele private Betriebe entstanden. Die Schattenwirtschaft, die nicht sichtbar ist, ist ziemlich groß und ziemlich effektiv. Mehr als fünfzig Prozent – so ergab eine amerikanische Umfrage - arbeiten bereits im privaten Sektor. Nach offiziellen Angaben liege diese Zahl allerdings viel niedriger. (…) Einen bedeutenden Teil der Wirtschaft kann man also schon als gesund bezeichnen, einige Sektoren – wie zum Beispiel die Nahrungsmittelindustrie – arbeiten sogar bereits ziemlich effektiv. Die Nahrungsmittelindustrie ist fast vollständig privatisiert, dort sind auch einige Auslandsinvestitionen zu verzeichnen, dieser Industriezweig kann als voll konkurrenzfähig bezeichnet werden. Kurz: Immer mehr Menschen überzeugen sich davon, dass Marktbeziehungen für sie vorteilhaft sind.

    Soziologische Umfragen belegen jedoch a u c h , dass ein Drittel der Bevölkerung, die Rückkehr zur alten Ordnung wünscht. Präsident Kutschma warnt hingegen vor der Rückkehr des Kommunismus. Seine Gegner wiederum erklären, damit wolle er nur von den gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfen ablenken. Der Präsident steht auch deshalb im Kreuzfeuer der Kritik, weil er angeblich ein mehr als gutes Verhältnis mit den sogenannten ukrainischen "Oligarchen", den Wirtschaftsmächtigen des Landes, hat. Doch Kutschma setzt hier unbeeindruckt auf eine ganz besondere Gegenstrategie.

    Präsident Kutschma führt seinen Wahlkampf vor allem mit Hilfe des Fernsehens. Die staatlichen Medien würden über den ukrainischen Präsidenten zu wohlwollend berichten, hieß es darauf prompt in einem Anfang Oktober veröffentlichten Bericht von Wahlkampfbeobachtern des Europarates. Die unabhängigen Medien seien dauerndem Druck der staatlichen Organe ausgesetzt. Ständig tauchten bei bestimmten Zeitungen und Fernsehanstalten Vertreter der Sanitär-, Feuerschutz-, oder Steuerbehörde auf, um Irgendetwas zu beanstanden. Die Beobachter des Europarates erinnerten den ukrainischen Präsidenten ausdrücklich an sein Versprechen von 1994, die Pressefreiheit zu schützen.

    Gegen den größten privaten Fernsehsender, STB, der nicht in die Lobpreisungen für den Präsidenten einfallen wollte, wurde im August ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung eröffnet. Die Konten von STB wurden gesperrt. Die Steuerbehörde monierte, daß der Kanal seine Werbezeit mit Rabatt-Angeboten verkauft habe und erhob Steuer-Nachforderungen für alle Reklamesendungen. Unter der Hand ließ man die Redaktion aber wissen, daß den diversen anderen Präsidentschaftskandidaten einfach zu viel Beachtung gewidmet worden sei. Inzwischen - so ist zu hören - haben Beamte und die Redaktion eine nicht näher bekannte Einigung gefunden. Die Konten wurden wieder freigegeben: Um einen Sieg der Pressefreiheit handele es sich dabei aber nicht, werten Beobachter nüchtern und skeptisch. Eher sei dies wohl eine auf Einsicht beruhende Anpassung an posttotalitäre Machtverhältnisse.