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Voraussetzungen und Folgen von Elendsquartieren

Millionen der Ärmsten auf dieser Erde leben in den Slums der großen Städte und es werden immer mehr, denen jede Chance auf ein besseres Leben, auf sauberes Wasser, auf ein Dach über dem Kopf, auf Bildung und Gesundheitsfürsorge genommen ist. Den Medien im reichen Norden sind diese Menschen nur selten ein paar Zeilen oder Blicke wert. Der US-amerikanische Stadtsoziologe und Historiker Mike Davis hat genau hingesehen und sich in einer Studie mit den Voraussetzungen und Folgen von Elendsquartieren befasst.

Von Gerhard Klas | 25.06.2007
    Das Jahr 2006 war ein historischer Wendepunkt: Erstmals in der Geschichte lebten mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Ein Drittel der Bevölkerungen in diesen Städten, also etwas mehr als eine Milliarde Menschen, vegetiert dort in Slums. 2006, im selben Jahr dieser historischen Wende erschien die englische Originalausgabe von "Planet der Slums" des US-amerikanischen Stadtsoziologen und Historikers Mike Davis. Für sein verständlich geschriebenes Buch hat er vor allem wissenschaftliche Arbeiten ausgewertet. Es ist darin nicht nur viel über die Entstehungsbedingungen, sondern auch über die Ökonomie und die Lebenswelten der Slumbewohner zu erfahren. Davis zählt zahlreiche drastische Beispiele auf: Im Durchschnitt 13, 4 Menschen teilen sich ein Zimmer in den Slums von Kalkutta; in der sogenannten "Stadt der Toten" in Kairo leben zehntausende in Grabstätten; in Dahka sind die Slumbewohner die ersten Opfer von Überflutungen; in Manila haben sie sich auf Müllbergen eingerichtet und leben von dem, was die kleine, wohlhabende Klasse auf den Philippinen entsorgt hat. Allen Slums gemeinsam ist, dass es dort kein sauberes Wasser gibt und die Abwässer nicht in einer Kanalisation entsorgt werden. Riech- und sichtbare Fäkalien stellen aus diesem Grund für Mike Davis eine Art Demarkationslinie zwischen den Slums und den besseren Vierteln dar. Weitere Indikatoren sind die hohe Kindersterblichkeit und die geringe Lebenserwartung.

    Mike Davis erzählt darüber hinaus, wie die Slums entstanden sind und greift dabei auf die bekannten Beschreibungen des Arbeiterelends im britischen Manchester im 19. Jahrhundert, also zu Beginn der Industrialisierung, zurück. Warum die Menschen heute wie damals vom Land in die Stadt ziehen, deutet der Stadtsoziologe nur an. Er bleibt dabei, dass die elenden Verhältnisse auf dem Land sie in die Städte treiben, und nicht - wie so oft kolportiert - die Stadt mit einem besseren Leben lockt. Anders als vor zweihundert Jahren fliehen die Menschen heute allerdings in die Städte, so Davis, ohne dort eine Perspektive zu haben und trotz zunehmender Deindustrialisierung.

    Selbst in den Jahren des wirtschaftlichen Kahlschlags zwischen 1980 und Anfang 1990 ging die Urbanisierung der Dritten Welt trotz fallender Reallöhne, steigender Preise und in die Höhe schießender städtischer Arbeitslosigkeit in einem halsbrecherischen Tempo weiter. Dieses anormale Städtewachstum überraschte die meisten Experten und widersprach orthodoxen Wirtschaftsmodellen, laut deren Vorhersagen die negativen Rückkopplungen einer städtischen Rezession die Landflucht verlangsamen oder sogar umkehren würden.
    Den "Urknall" der jüngsten Verelendung städtischer Quartiere datiert Davis auf die ausgehenden 70er und die 80er Jahre, als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, kurz IWF, den verschuldeten Ländern der südlichen Halbkugel ihre Sparprogramme aufnötigten. Diese Programme verhinderten staatliche Investitionen in den öffentlichen Dienstleistungssektor. Sie gingen auf Kosten der Gesundheitsversorgung, des Bildungssystems und der Strukturhilfe für ländliche Regionen. Eine immense Landflucht setzte ein. Deregulierung und Privatisierung, die IWF und Weltbank dann in den 90er Jahren forcierten, raubten den Armen die Existenzgrundlagen. Als die indische Regierung zum Beispiel Anfang der 90er Jahre die Preisbindung für Lebensmittel aufhob, stiegen die Preise innerhalb von vier Jahren um 60 Prozent. Grundnahrungsmittel wurden für viele Inder unerschwinglich. Heute werden in manchen Regionen Indiens wieder Hungersnöte beobachtet. Überall auf der Welt gab es in diesen Jahren, also von Ende der 70er bis Anfang der 90er, sogenannte IWF-Aufstände in den Ghettos und Slums - von den Medien der sogenannten 1. Welt weitgehend ignoriert. Und der Druck steigt, meint Mike Davis. Jährlich wachse die Slumbevölkerung um 25 Millionen Menschen. Immer mehr Jugendliche schließen sich Straßengangs oder paramilitärischen Einheiten an, manche verkaufen aus Not eine Niere, leben von Prostitution und müssen Wuchermieten an die sogenannten Slumlords bezahlen, die mit Immobilienspekulation in den Slums vieler Megastädte reich geworden sind. Die Möglichkeiten der wechselseitigen Hilfe seien erschöpft, schreibt Mike Davis, es gebe einen Verlust der Solidarität der Slumbewohner untereinander. Eine solche Situation produziere ethnisch-religiöse und rassistische Gewalt.

    Bei dem ganzen Tamtam, das um die Losung "den Armen helfen, sich selbst zu helfen", gemacht wurde, registrierte die Öffentlichkeit kaum, welch folgenschwere Beschneidung von Versorgungsansprüchen sich hinter dieser Absegnung der Slumunterkünfte durch die Weltbank verbarg. Die Lobpreisungen der Selbsttätigkeit der Armen wurden zum Deckmantel für die Aufkündigung der historischen Verpflichtung des Staates, Armut und Obdachlosigkeit zu beseitigen.

    Der Stadtsoziologe Davis widerspricht Lösungsansätzen wie denen des peruanischen Ökonomen und neoliberalen Vordenkers Hernando de Soto, der ausschließlich den Staat für das Elend in den Slums verantwortlich macht. De Soto fordert, den Slumbewohner zum Kleinunternehmer zu machen und hat mit seinen Ideen auch die Konzepte der Weltbank inspiriert. Er schlägt formelle Besitzrechte, gebührenpflichtige Toiletten und unregulierten Wettbewerb als Quelle des Reichtums vor. Mike Davis fordert stattdessen mehr soziale Sicherheit und die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums. Denn wo die Armut wächst, wächst auch der Reichtum. In nicht allzu weiter Ferne von den Slums entstehen überall auf der Welt sogenannte "Gated Communities", in denen sich die Profiteure dieses ökonomischen Systems mit stromgeladenen Hochsicherheitszäunen, rasiermesserscharfem Nato-Draht, Sicherheitspersonal und mobilen Alarmgeräten vor der hausgemachten Armut und dem Elend abschotten.

    Diese "Architektur der Angst" ist in der Dritten Welt und einigen Teilen der Ersten verbreitet, aber weltweit am ausgeprägtesten ist sie in großen städtischen Gesellschaften, in denen das sozio-ökonomische Gefälle am stärksten ist, wie in Südafrika, Brasilien, Venezuela und den Vereinigten Staaten. [..] Brasiliens berühmteste befestigte und amerikanisierte Edge City ist Alphaville im nordwestlichen Quadranten des Großraums von Sao Paulo. Perverserweise benannt nach der düsteren neuen Welt in Godards schrägem Film von 1965, ist Alphaville eine vollständig privatisierte Stadt mit einem großen Bürokomplex, einem teuren Einkaufszentrum und befestigten Wohngebieten, die alle von mehr als 800 privaten Sicherheitskräften bewacht werden. [..] In der Praxis bedeutet das Selbstjustiz gegenüber kriminellen und obdachlosen Eindringlingen, während Alphavilles begüterte Jugend Amok laufen darf.

    Mit der strukturellen Gewalt verhält es sich wie mit einem Bumerang: Sie richtet sich letztendlich gegen ihre Profiteure. Freiheit und Demokratie, die sie gerne im Munde führen, bleiben dabei auf der Strecke. Sie werden dem Sicherheitsdenken geopfert. Mike Davis räumt mit der weitverbreiteten Vorstellung auf, eine gesellschaftliche Integration der Slumbewohner unter den Bedingungen des kapitalistischen Weltmarkts sei möglich. Am deutlichsten sei der Versuch dort gescheitert, wo den Slumbewohnern der Segen der kapitalistischen Ökonomie mit militärischer Gewalt gebracht werden sollte, etwa in den Slums von Mogadischu und Bagdad. Diese Megaslums sind nach Ansicht von US-Militärforschern das "schwächste Glied der neuen Weltordnung". Der "wahre Kampf der Kulturen", so Mike Davis, wird sich künftig an den Orten abspielen, die US-amerikanische Kriegsplaner als "Schlachtfelder des 21.Jahrunderts" bezeichnen: die äußeren Slumbezirke der Mega-Cities in der Dritten Welt.

    Diese wahnhafte Dialektik von rechtmäßigem versus dämonischem urbanen Ort mündet in ein düsteres und nicht enden wollendes Duett: Nacht für Nacht rattern Kampfhubschrauber auf der Jagd nach rätselhaften Feinden wie Hornissen über den engen Gassen der Slumviertel und feuern Maschinengewehrsalven in armselige Hütten oder auf fliehende Autos. Jeden Morgen antworten die Slums mit Selbstmordattentaten und Explosionen. Während das Imperium über ein Orwell'sches Arsenal an Repressionstechnologien verfügt, haben die Geächteten die Götter des Chaos auf ihrer Seite.