Donnerstag, 18. April 2024

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Vorbildliche gläserne Soldaten

Für den Dienst an der DDR-Grenze wurden die Soldaten sorgfältig ausgewählt. Darauf hatte die Staatssicherheit ein wachsames Auge. Henry Bernhard hat in seinem Buch den Dienstalltag der Grenzer, ihre Motive und Einstellungen genauer beleuchtet.

Von Henry Bernhard | 08.08.2011
    Seit die DDR existierte, versuchte sie, sich gegen den Westen abzuschotten. Keiner sollte illegal hereinkommen – und, noch viel wichtiger: Keiner sollte illegal das Land verlassen können. Zuerst bewachten Soldaten der Roten Armee die innerdeutsche Grenze, dann die Deutsche Grenzpolizei, ab 1961 die Grenztruppen der DDR. Immer wieder gab es Umstrukturierungen in der Organisation, vor allem im Grenzabschnitt Berlin. Der Grenzring um Westberlin bestand aus 44 Kilometern innerstädtischer Mauer und 112 Kilometer "grüner Grenze" zum Bezirk Potsdam im heutigen Land Brandenburg. Er war nur ein kleiner Teil der über 1300 Kilometer langen innerdeutschen Grenze, aber der öffentlichste und selbst für DDR-Bürger unübersehbare. 13.000 Soldaten und Offiziere, ein Drittel der gesamten Grenztruppen, taten hier täglich ihren Dienst. Der Autor Jochen Maurer ist selbst Offizier der Bundeswehr. Er hat das Berliner Grenzregiment 33 ausgewählt, um anhand von Grenztruppen- und Stasiakten, aber auch durch Gespräche mit Ex-Grenzern den Dienstalltag der Grenzer, ihre Motive und Einstellungen, die Hierarchien und die Rolle der Staatssicherheit in den Grenztruppen zu untersuchen. Das Grenzregiment 33 war zuständig für die Grenze nördlich des Brandenburger Tores.

    Alarm-Klingel
    Wir riegeln ab im Abschnitt Xantippe bis Otto. Melden Sie sich bei Eintreffen!
    Alarmklingel und Laufschritt
    Es war nur ein Reh, das den Alarm auslöste. Wichtig ist, dass ein Grenzverletzer keine Chance gehabt hätte.


    Ein Lehrfilm der DDR-Grenztruppen. In der Ideologie der SED waren die Grenzer – im Gegensatz zu den NVA-Soldaten – täglich im Gefechtseinsatz gegen den "aggressiven Klassenfeind", gegen "Provokateure" und "Menschenhändler" im Westen und "Grenzverletzer" aus der DDR. Jochen Maurer untersucht zunächst, wie ein junger Wehrpflichtiger zu den Grenztruppen gelangte. Bereits bei der Musterung siebte die Staatssicherheit aus, wer nicht verlässlich genug schien, um an der Grenze Wache zu halten. Bis zur Entlassung wurde unablässig weiter gefiltert und ausgesondert:

    Nach Auffassung des MfS bedeutete es, dass je Halbjahr ein Fehlbestand von 571 NVA-Angehörigen im Bereich der Grenztruppen entstand. Der Wegfall dieses Personals bedeutete eine wesentlich stärkere Beanspruchung der verbliebenen Soldaten und äußerte sich in vielfältigen Defiziten wie etwa schlafenden oder dienstunwilligen Grenzposten.

    Überhaupt spielte die Staatssicherheit eine dominierende Rolle bei den Grenztruppen: Der Dienst basierte auf Misstrauen und Kontrolle, nicht auf Vertrauen und Kameradschaft. Jeder Posten wurde doppelt besetzt, jedoch keinesfalls mit Freunden oder untereinander verwandten Soldaten. Kein Postenpaar sollte mehrfach hintereinander gemeinsam auf Wache ziehen, keiner mehrfach am gleichen Grenzabschnitt. All dies hätte Fahnenfluchten begünstigt. Und die fürchtete die Stasi noch mehr als die "normale" zivile Republikflucht. So verließ kein Posten die Kaserne zum Wachdienst ohne Zustimmung der Staatssicherheit. Spezielle Aufgaben, wie zum Beispiel die Kontrollen an den Grenzübergängen Richtung Westen oder die Bewachung von besonders heiklen Punkten übernahm die Stasi gleich selbst. Jeder fünfte Offizier war zudem Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, auf 13 Soldaten kam ein IM. Zur alltäglichen Zusammenarbeit mit der Stasi kam die Schnüffelei. Faktisch jeder Offizier war Mitglied der SED.

    Soldat sein heißt Genosse sein,
    beim Lernen, Marschieren, im Feuer.
    Den Frieden schützt man nicht allein,
    dafür ist er uns zu teuer.


    Der monolithische, der Partei und dem Staat ergebene Block der Grenzer, der vorbildliche gläserne Soldat, blieben jedoch Wunschdenken der Grenztruppenführung. Der Autor beschreibt, wie Soldaten und Offiziere oft schnell frustriert wurden: durch den anstrengenden und monotonen Dienst, durch Überforderung und schlechte Lebensbedingungen, aber auch durch die schnell durchschaubare Tatsache, dass sie die Grenze in Wahrheit nach innen und nicht nach außen schützten.

    Der Großteil der Wehrpflichtigen durchlief den Dienst in den Grenztruppen eher mit einer inneren Ablehnung als mit dem Gefühl einer Überzeugung. Diese Erkenntnis lässt die berechtigte Annahme zu, dass dieser Teil der Wehrpflichtigen noch weniger bereit war, seine Waffe gegen Flüchtlinge einzusetzen. (...) Die Zahl der Fälle, in denen Grenzsoldaten nachweislich auf den Gebrauch der Waffe verzichteten oder aber gezielt an den Flüchtenden vorbeischossen, stützt diese Annahme zusätzlich.

    Im letzten Jahrzehnt der DDR flohen pro Jahr elf Grenzsoldaten, ein Drittel von ihnen Offiziere und Unteroffiziere, im Dienst in den Westen. Maurer untersucht auch die Motivation der Berufssoldaten in den Grenztruppen. Er findet in den Akten kaum politische, sondern hauptsächlich persönliche Motive für einen Dienst in den Grenztruppen: Karrierechancen, relativ hohes Einkommen, die Chance auch für Minderbemittelte, das Abitur ablegen und studieren zu können. Was er in den Akten jedoch nicht findet, ist der enorme Druck, den Schulleiter und Werber an den Schulen der DDR mitunter schon auf Minderjährige ausübten, um diese dazu zu veranlassen, sich für einen Dienst in NVA oder Grenztruppen zu verpflichten. Interessant sind auch Maurers Untersuchungen des zweiten, des militärischen Auftrages der Grenztruppen der DDR: Immerhin verfügten die Teile, die nicht im Wachdienst eingesetzt wurden, über Panzer, Kanonen und Flammenwerfer. Regelmäßig trainierten sie den Häuserkampf. Der Autor referiert die Militärdoktrinen von NATO und Warschauer Pakt und spekuliert, ob sich die Grenztruppen für einen Angriff auf Westberlin vorbereiteten, ob sie Speerspitze eines Präventivschlages des Ostblocks sein sollten. Dies bleibt angesichts der Aktenlage jedoch im Vagen. Jochen Maurer wirft in seiner Studie wichtige Fragen auf, beantwortet viele davon und weist auf weitere nötige Forschungen zu den Grenztruppen hin. Das Buch ist übersichtlich gegliedert, ein Stichwortverzeichnis gibt es jedoch leider nicht. Kein großer Wurf, dennoch eine wichtige Arbeit über die Menschen, die die Mauer erst funktionsfähig machten, die auf Flüchtende schossen oder eben nicht.

    Jochen Maurer: Dienst an der Mauer. Der Alltag der Grenztruppen rund um Berlin
    Christoph Links Verlag, 272 Seiten, 39,90 Euro
    ISBN: 978-3861536253