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Vorboten der Unruhe

In Ägypten gebe es trotz jahrelanger Unterdrückung ein hohes Niveau an "Intellektualität, an Künstlertum, an Wissen", sagt die Ägyptenexpertin Kristina Bergmann. Der Wunsch der ägyptischen Schriftsteller nach freier Meinungsäußerung habe nun mit den Unruhen ein Ventil gefunden.

Kristina Bergmann im Gespräch mit Michael Köhler | 08.02.2011
    Michael Köhler: Nach Ägypten. Nach zwei Wochen kann man eine Art Revolutionsordnung vielleicht in Kairo erkennen. Armut und Arbeitslosigkeit machen die Menschen wütend, sie revoltieren, sie demonstrieren, gehen auf die Straße. Ihre Unzufriedenheit macht sie hartnäckig. Die Miliz schützt das Volk, Kräfte des Übergangs formieren sich, ein Runder Tisch entsteht, eine gemeinsame Sprache muss gefunden werden, das muss moderiert werden. Künstler und Intellektuelle, die taugen dazu, die anderswo längst abgewirtschaftet haben, sie genießen Kredit. Am Runden Tisch sind Schriftsteller und Publizisten offenbar gerne gesehen. Gab es aber so etwas wie Vorboten in der zeitgenössischen ägyptischen Literatur für diese Entwicklung? – Das habe ich Kristina Bergmann gefragt. Sie ist Übersetzerin aus dem Arabischen, von Khaled El Khamissi etwa dessen Buch "Im Taxi", und sie ist Korrespondentin der Neuen Züricher Zeitung in Kairo. War die Literatur also schon weiter als die Politik?

    Kristina Bergmann: Ich glaube, man kann einfach sagen, wer schreibt ist in Ägypten eher, sagen wir mal, kritisch, liberal-kritisch, und viele der Schriftsteller haben eben diese Krise vielleicht nicht vorausgesehen, aber sie haben stark kritisiert und sie haben auch gesehen, dass die Leute unzufriedener werden und dass es darauf hinausläuft, dass es irgendwann explodieren wird.

    Köhler: Sind die modernen Schriftsteller auch Vorboten der Moderne in Ägypten?

    Bergmann: Ja. Jeder ist ein Vorbote natürlich seiner Zeit. Nagib Machfus war auch ein Vorbote zu seiner Zeit, der ist ja jetzt schon seit einigen Jahren tot und hatte quasi seine Jugend eher Anfang des 20. Jahrhunderts und war damals bestimmt ein Vorbote, und das sagen auch alle großen Schriftsteller heute wie Ala al-Aswani zum Beispiel, der bekannteste heute, dass das sein Idol ist, und der hat natürlich auch in dem Sinne Revolutionen vorausgesagt oder Aufstände und Unzufriedenheit. Ala al-Aswani hat jetzt sich sehr eingesetzt, der hat ja diesen berühmten Jakubijan-Bau geschrieben. Und der hat gesagt, er hätte das schon vor drei oder vier Jahren gemerkt. Khaled El Khamissi, der Autor von "Taxi", behauptet sogar noch länger. Ich habe den jetzt gerade vorher angerufen und der sagt, er hätte schon 2005 und 2006 eigentlich gespürt, dass dieses Land explodieren wird. Nun ist es so, meiner Ansicht nach: Es lässt sich viel spüren in diesem Land, und diese Schriftsteller haben das bestimmt gespürt, aber derjenige, der sich am meisten beteiligt hat, jetzt, an der jetzigen Revolte, ist bestimmt Ala al-Aswani.

    Köhler: Was bewegt diese Schriftsteller? Ist es der Ruf nach Freiheit, ist es die Armut und die Arbeitslosigkeit, die auch Sie bewegt, ist es der Wunsch nach Veränderung hin zu einem weltoffenen intellektuellen Ägypten? Was bewegt die Schriftsteller?

    Bergmann: Ja. Ich denke, Sie haben das ganz richtig formuliert, und jeder beschreibt das dann auf seine Art. Sagen wir mal, drei der wichtigsten heutigen lebenden Schriftsteller sind eben Ala al-Aswani, der sich jetzt eben sehr bemüht und der auch sehr viel gelesen wird, dessen Bücher eine enorme Auflage haben, allen voran der Jakubijan-Bau. Alles was jetzt kritisiert wird, durchzieht dieses Gebäude. Dann Khaled El Khamissi, der seine Kritik eher abwälzt auf Taxifahrer, die das vielleicht naiv formulieren, aber trotzdem auch sagen, wir sind unfrei, wir haben nichts zu essen. Also es kommt auch das Wirtschaftliche hinzu. Ich möchte aber jetzt unterstreichen "hinzu". Dann haben wir auch zum Beispiel den Standpunkt von Reda Abdel Al, die hat dieses Buch geschrieben "Ich will heiraten". Die hat zum Beispiel gesagt, sie ist froh, dass die jungen Leute jetzt auf die Straße gehen und etwas tun und nicht nur hinter dem Internet sitzen, hinter dem Computer sitzen, sich im Internet aufhalten, sondern konkret etwas tun. Auch das spielt eine Rolle, dass viele Leute einen Fluchtweg gesucht haben in eine quasi virtuelle Welt, weil die Realität eben so traurig ist. Die lieben ihr Land, die Leute sind sehr patriotisch, aber sie wollen natürlich ein Land, in dem es mehr Freiheit gibt. Also ich würde sagen, an erster Stelle steht für alle diese Leute, genau wie für die Demonstranten, der Wunsch nach Freiheit.

    Köhler: Zwei Wochen nach Beginn der Unruhen und der Protestmärsche, wie empfinden Sie die Situation im Moment?

    Bergmann: Ich empfinde die Situation als positiv, jedenfalls von den Demonstranten her und auch von diesen Intellektuellen oder Schriftstellern her, und der Wunsch, quasi zu explodieren und seine Meinung zu sagen, der besteht sicher schon seit Längerem und der hat jetzt quasi ein Ventil gefunden, und der Wunsch ist so stark, dass der sich gar nicht länger unterbinden lässt in einem Land, wo eben wirklich lange, lange Jahre lang absolute Unterdrückung und Unfreiheit geherrscht hat, bei einem hohen Niveau an Intellektualität, an Künstlertum, an Wissen und so weiter.

    Köhler: ... , sagt Kristina Bergmann von der Neuen Züricher Zeitung in Kairo, tätig als Korrespondentin, aber auch als Übersetzerin ägyptischer Literatur.